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Foto: Keystone-SDA
04. September 2025

«Es kam mir vor, als würde der Zug ohne mich abfahren»

Vor zwei Jahren erlebte Tennisprofi Dominic Stricker an den US Open eine Sternstunde, diesmal scheiterte er klar in der ersten Qualifikationsrunde. Hier blickt der 23-Jährige auf die schwierigsten zwei Jahre seiner Karriere zurück, erzählt, wie er die für ihn so wichtige Lockerheit zurückgewinnen will und was er unter Hypnose über sich gelernt hat.

«Den 30. August 2023 werde ich wohl nie in meinem Leben vergessen. Vor allem die 90 Sekunden vor dem letzten Seitenwechsel im Match gegen Stefanos Tsitsipas – diese Bilder sind ja um die Welt gegangen. Ich sitze auf meiner Bank, trockne mich ab, versuche locker zu bleiben. Im Stadionlautsprecher hört man Whitney Houston, ‹I wanna dance with somebody›. Dass ich da wirklich lautstark mitgesungen hatte, wurde mir erst bewusst, als ich nach dem Match in der Garderobe mein Handy einschaltete und Hunderte von Nachrichten und verlinkten Instagram-Posts aufploppten. Wenn du in so einem Moment nach vierstündigem Kampf durchzuatmen und dich in der kurzen Pause noch einmal zu konzentrieren versuchst, denkst du nicht mehr viel. Da regiert der Instinkt. Später haben mir ein paar Leute gesagt, ich hätte genau das Richtige getan: Singen beruhige das Nervensystem.

«Der wichtigste Sieg meiner Karriere»: Dominic Stricker (rechts) schlägt am US Open 2023 den Favoriten Stefanos Tsitsipas (links) in fünf Sätzen. (Keystone-SDA)

Auch wenn nachher alle über meine krasse Lockerheit gesprochen haben: In mir drin sah es ganz anders aus. Wenn du 5:2 führst im fünften Satz und kurz vor dem wichtigsten Sieg deiner Karriere stehst, dann gehen dir tausend Dinge durch den Kopf. Da schaffst du es einfach nicht, Punkt für Punkt zu spielen. Deine Nerven spielen verrückt, du spürst, wie der Gegner noch einmal stärker wird, hoffst, es dann bei eigenem Aufschlag irgendwie über die Ziellinie zu schaffen. Und wenn dann der Gegner doch noch zu Breakchancen kommt, ist es extrem schwierig, als Aussenseiter die Ruhe zu bewahren. Es macht mich stolz, dass mir das gelungen ist. Und obwohl ich am nächsten Tag komplett kaputt war, gewann ich keine 48 Stunden später einen weiteren 5-Satz-Krimi und qualifizierte mich fürs Achtelfinale der US Open gegen Taylor Fritz.

“Hätte mir damals jemand gesagt, im ganzen Jahr 2024 würde ich nur vier Matches auf höchster Stufe gewinnen, hätte ich ihn wohl für verrückt erklärt. ”

Aber im Tennis ist der Grat zwischen Aufstieg und Absturz extrem schmal. Nach dem Exploit am US Open spielte ich Davis Cup für die Schweiz. Dass mein Rücken schmerzte, beunruhigte mich zuerst nicht wirklich. Dann wurden die Schmerzen bei den nächsten Turnieren immer schlimmer, und gegen Ende 2023 war klar, dass ich wegen eines Bandscheibenrisses für mehrere Monate pausieren musste.

Dominic Stricker an der Seite von Stan Wawrinka beim Davis-Cup-Doppel 2023. (Keystone-SDA)

Dieser Zwangsunterbruch hat mir richtig zu schaffen gemacht. Zwar wird die Weltranglistenposition für einige Monate eingefroren, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, jeden Tag etwas an Boden zu verlieren im Vergleich zur Konkurrenz. Es gibt so viele starke Spieler und du siehst täglich, wer gerade wo Erfolge feiert. Es kam mir vor, als würde ein Zug, den ich unbedingt erwischen wollte, ohne mich abfahren. Gleichzeitig brauchte ich eine neue Tagesstruktur, musste mich neu organisieren, weil sich vorher jahrelang alles ums Tennis gedreht hatte.

Ein erster Schritt zurück zur Normalität war, als ich wieder mit hoher Intensität trainieren konnte in der zweiten Hälfte des letzten Jahres. Da schöpfte ich wieder Mut, sah, dass ich nichts verlernt hatte – ausser dem Wichtigsten: der Coolness in engen Situationen. Das war extrem frustrierend: Ich spielte in den meisten Matches nach der Verletzungspause gut, hielt problemlos mit bis zum Stand von 3:3 oder 4:4; dann setzte ich mich unter Druck, wollte mich unbedingt mit einem Sieg belohnen, und verlor alle Partien, weil ich in den wichtigen Momenten falsche Entscheidungen fällte. 

“Je länger so eine Negativspirale ohne Erfolgserlebnis andauert, desto schwieriger wird es, da wieder rauszukommen.”

Ein Bandscheibenriss zwingt Stricker schliesslich zu einer Zwangspause von mehreren Monaten. (Keystone-SDA)

Was das Finanzielle betrifft, ist der Unterschied zwischen den besten 100 der Weltrangliste und dem Rest enorm. Wenn du aufgrund deiner Klassierung an den vier Grand-Slam-Turnieren antreten kannst, weisst du, dass du dein Team und deine Reisekosten bezahlen kannst. Am diesjährigen US Open erhalten die Verlierer der ersten Runde des Hauptfelds 110’000 US-Dollar. Ich habe leider in der ersten von drei Qualifikationsrunden verloren – da bleiben nur die Ausgaben übrig. Nach New York geht es für mich nun mit Challenger-Turnieren weiter, das sind Turniere der zweithöchsten Stufe, wo nicht um Hunderttausende Dollar, sondern um ein paar Tausend Euro gespielt wird. Am 12. und 13. September folgt zudem der Davis-Cup gegen Indien.

So krass der Unterschied in finanzieller Hinsicht ist: Leichte Matches gibt es auch auf der Challenger-Tour keine. Sogar auf der dritthöchsten Stufe, an den Future-Turnieren, ist das Niveau inzwischen sehr hoch. Die besten 300 Spieler der Welt betreiben alle einen enormen Aufwand, sie alle sind fähig, an einem guten Tag einen Exploit zu schaffen und einen Top-20-Spieler zu bezwingen. Entscheidend ist, wie viele gute Tage du hast in einem Jahr und ob du auch an einem mittelmässigen Tag Matches gewinnen kannst.

Stricker am Interviewtermin für diesen Blog. (Swiss Olympic)

Die vielen Niederlagen im letzten und in diesem Jahr haben mich schon ins Grübeln gebracht. Es stimmt nicht, dass ich an Rücktritt gedacht habe, aber zeitweise fragte ich mich, ob es für mich wirklich einen Platz gibt unter den besten Hundert, ob ich es noch einmal in diesen Kreis schaffe. In solchen Momenten rufe ich mir in Erinnerung, dass ich erst 23-jährig bin und noch viele Jahre vor mir habe; und dass man irgendwann belohnt wird, wenn man die richtigen Dinge tut, hart arbeitet, aber auch die Signale seines Körpers ernst nimmt, sich genügend Erholung und Ausgleich gönnt – zum Beispiel einen entspannten Nachmittag im Marzili-Bad. Aktuell bin ich die Nummer 226 der Welt. Mein kurzfristiges Ziel ist es, wieder Matches zu gewinnen.

“Im nächsten Jahr möchte ich zurück in die Top 100.”

Wenn ich gesund bleibe, sind sicher auch die Top 50 möglich. Und irgendwo lebt auch noch der Traum, einmal die Nummer 1 zu sein, auch wenn das zur Zeit sehr weit weg ist. Das Verrückte ist:

“Obwohl ich seit 17 Jahren Tennis spiele, bleibt dieser Sport auch für mich ein Rätsel.”

Es gibt Tage, da stimmt alles, das Timing, das Körpergefühl, da triffst du ohne Nachdenken die richtigen Entscheidungen. Und am nächsten Tag lässt dich die Vorhand im Stich oder du triffst zwar den Service gegen aussen, aber keinen einzigen durch die Mitte. Als hättest du das nicht tausendfach geübt. Und je mehr du es erzwingen willst, desto weniger klappt es. Ähnlich rätselhaft war es, dass mir gegen Ende des schwierigen letzten Jahres plötzlich zwei gute Turniere in Stockholm und Basel gelangen. Diese Erinnerungen geben mir Hoffnung.

Der elfjährige Dominic Stricker im Tivoli Tenniscenter in Worblaufen. (zvg)

Was auch gut tut, wenn es überhaupt nicht läuft, ist der Zuspruch von Konkurrenten. In Gstaad sagte der langjährige Top-5-Spieler Casper Ruud nach der Auslosung zu mir, es sei ein Albtraum, dass er seinen ersten Match gegen mich spielen müsse. Ich hatte ihn vor zwei Jahren an den Swiss Indoors in Basel geschlagen. Es tat mir gut zu spüren, wie viel Respekt er noch immer vor mir hat.

“Richtige Freundschaften gibt es aber kaum auf der Tour. ”

Mit einigen Spielern verstehe ich mich gut, Jan-Lennard Struff zum Beispiel oder Flavio Cobolli, aber wir sind schon alles eher Einzelkämpfer, jeder in seinem ganz eigenen Film.

So schwierig die letzten zwei Jahre für mich waren: Ich sehe auch viel Positives. So habe ich gelernt, besser auf mich zu hören und wenn nötig auch harte Entscheidungen zu fällen. So trennte ich mich im Frühling von meinem Trainer Dieter Kindlmann, weil ich meinen Kopf leeren und neue Wege gehen wollte. Bevor ich nach Francavilla zum nächsten Challenger-Turnier flog, gönnte ich mir eine längere Golfrunde und ein Nachtessen mit einem guten Kollegen. Am späten Abend sagte dieser spontan: ‹Weisst du was, ich fliege morgen mit dir und begleite dich ans Turnier.› Ich schaffte es dann aus dem Nichts bis ins Halbfinale. Das zeigt, wie wichtig es für uns Tennisspieler ist, sich ein gutes Umfeld zu schaffen. Auch deshalb ist für mich klar, dass ich bald wieder einen Trainer engagieren werde. Es geht nicht nur darum, dass man im Training von ihm lernt oder im Match Tipps erhält. Ebenso wichtig sind die kleinen Dinge: dass man nicht alleine isst, sich nicht den Kopf zerbricht, zusammen Dinge unternehmen kann, sich nicht um alles selber kümmern muss. Ein wichtiger Schritt ist für mich auch die vor wenigen Tagen besiegelte Zusammenarbeit mit der Berner Agentur AVD Management, die sich vor allem um Sponsoring- und Marketing-Deals kümmern wird. 

Auf dem Weg zurück: Dominic Stricker im Juli 2025 am Swiss Open Gstaad. (Keystone-SDA)

“Etwas vom Wichtigsten auf dem Weg zurück wird sein, dass ich wieder zu meiner Lockerheit zurückfinde. Ich muss nicht unbedingt singen beim Seitenwechsel, aber ohne Spass funktioniert es bei mir nicht.”

Und wenn ich mit Angst spiele, habe ich keine Chance. Kurz nach meiner Verletzung kontaktierte mich ein Spezialist für Sporthypnose. Ich lehnte dankend ab, konnte mir nicht vorstellen, dass mir das etwas bringen könnte. Vor einigen Monaten änderte ich meine Haltung und war bereit, dem Ganzen eine Chance zu geben. Und ich muss sagen: Es ist krass, was da alles möglich ist. Ein Thema in diesen Sitzungen war, dass ich in wichtigen Momenten verkrampfte, als hätte ich Angst vor dem Sieg. Unter Hypnose ging ich zurück auf meinem Lebensweg, weil wir herausfinden wollten, wo dieses Gefühl herkam. Schliesslich sah ich mich in einem Operationssaal liegen, am Bett meine besorgten Eltern. Ich konnte jedes Detail beschreiben, wer wo im Raum war, die Einrichtung, alles. Und erfuhr später im Gespräch mit meinen Eltern, dass ich im Alter von 10 Wochen eine Operation über mich ergehen lassen musste und alle sehr besorgt waren um mich. Nun, nach einigen Sitzungen, habe ich den Eindruck, da viel Ballast abgeworfen zu haben. Meine Freundin hat mir jedenfalls mehrmals nach Hypnose-Sitzungen zurückgemeldet, ich sei viel unbeschwerter gewesen als sonst. Ebenso wertvoll ist, dass ich die Selbsthypnose erlernt habe. Ich erinnere mich gut, wie ich nach dem Match am US Open gegen Tsitsipas gegen 3 Uhr morgens noch hellwach im Hotelbett lag, überwältigt von all den Emotionen, ohne Chance, Schlaf zu finden. Heute weiss ich dank Selbsthypnose, wie ich jederzeit innert weniger Sekunden einschlafen kann, ganz egal, was vorher passiert ist.»

Dominic Stricker begann als 5-jähriger mit Tennis. Mit 18 Jahren gewann der Berner in der Junioren-Kategorie der French Open den Einzel- und den Doppel-Titel. 2023 stiess er an den US Open bis ins Achtelfinale vor und kletterte auf Rang 88 der Weltrangliste. Im Jahr 2024 musste Stricker wegen einer Rückenverletzung mehrere Monate pausieren. Danach tat er sich schwer, den Anschluss an die Weltspitze wieder zu finden. Aktuell belegt er Platz 226 der Weltrangliste. Stricker ist in Grosshöchstetten aufgewachsen und wohnt in Bern. Er ist derzeit ohne Trainer unterwegs und wird von Swiss Tennis unterstützt. Seine Eltern sind Teilhaber der Dominic Stricker GmbH. Seit dem 8. August kooperiert Dominic Stricker in den Bereichen Management, Marketing und Sponsoring mit der von der Beachvolleyballerin Anouk Vergé-Dépré gegründeten Berner Agentur AVD Management.

Aufgezeichnet von Mathias Morgenthaler, Laufbahnberater Athlete Hub Swiss Olympic

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