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«Ich habe zu mir selber gefunden»
Kugelstösser Gregori Ott hat sich lange mit anderen internationalen Top-Athleten verglichen. Nach einer schweren Verletzung stellte er alles auf den Kopf und fühlt sich nun stärker und zufriedener, als je zuvor.
Leichtathletikstadion Schützenmatte, Basel, am 23. August 2019, Schweizermeisterschaft, Final im Kugelstossen. Ich konzentriere mich auf eine ruhige, gleichmässige Atmung. Vor meinem inneren Auge sehe ich die letzten Wochen und Monate an mir vorbeiziehen.
Den Moment der Niedergeschlagenheit nach meinen Verletzungen, den Beginn bei null, die Umstellung meines gesamten Trainingskonzeptes, die Tüftelei mit meiner Trainerin Ursi Jehle an jedem, noch so winzigen Detail, die Unterstützung meiner Freundin und Familie, die 25 Stunden Training pro Woche, in denen ich meinen Körper wie auch meinen Geist immer aufs Neue fordere und so Einiges abverlange.
Das Sprichwort «Train hard - Win easy» drängt sich in diesem Moment in meinen Kopf. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht, Lockerheit breitet sich in meinem Körper aus. Ich nehme das Magnesiumpulver in meine Hände, klatsche mir eine Handvoll auf den Hals und bin nach diesem Ritual bereit.
In den nächsten zwei Sekunden gebe ich alles, aus einer vollkommenen Lockerheit explodiere ich zu 100 Prozent und katapultiere die 7,26 Kilo schwere Kugel nach vorne. Im Moment des Abstosses begleitet mein gewaltiger Urschrei die Flugbahn der Kugel, ich lasse allen meinen Emotionen und Gefühlen der letzten Monate freien Lauf.
Der Stoss ist vorbei, ich nehme mein Umfeld nicht wahr, konzentriere mich nicht einmal auf die eben geworfene Weite. Stattdessen fokussiere ich mich auf den nächsten von zwei weiteren Versuchen. Ich will der besten Version von mir selbst ein Stück näher rücken. Erst nach drei fokussierten Versuchen blicke ich auf die Tafel mit der eben geworfenen Distanz und verspüre pure Freude. Ich habe mich erneut zum Schweizermeister gekürt.
Der Erfolg zeigt mir in diesem Moment, mein Weg stimmt. Der neue Ansatz, bei mir selbst zu bleiben, mich nicht dauernd mit anderen Athleten zu vergleichen, zeigt Wirkung. Nicht nur meine sportliche Leistung erblüht aufs Neue, auch meine innere Zufriedenheit und Akzeptanz mir gegenüber selbst ist in diesem Moment so gross wie nie zuvor.
Im Jahr 2018 habe ich mein ganzes Leben neu geordnet, mein ganzes Trainingskonzept von Grund auf verändert. Damals habe ich jeden Morgen als Erstes meine sozialen Medien gecheckt. Habe mich beeindrucken lassen, wie imposant manche Athleten der Kugelstosser-Szene sind und liess mich von ihrer Physis und ihren sportlichen Leistungen inspirieren. Regelmässig scrollte ich in dieser Zeit durch das Profil von Ryan Crouser, dem Olympiasieger von 2016 und habe einfach gestaunt. Ich habe mir gewünscht, genau diese Physis, das gleiche Gewicht, die gleichen Kraftwerte zu erreichen. Wenn ich alles gleich mache wie er, kommen die unglaublichen Wurfdistanzen sicherlich auch wie von selbst, stellte ich mir vor. Eine Stimme in mir sagte, dass ich das ebenfalls schaffe, wenn ich es nur genug will.
Ich nahm mir vor, mein bereits stattliches Wettkampfgewicht von 130 Kilogramm auf 150 zu steigern. Auch die Grenzen meiner Kraftwerte wollte ich durch hartes Training sprengen. Ich trainierte wie ein Ochse und schuftete jeden Tag zweimal vier Stunden im Stadion und im Kraftraum. Anfangs schossen meine Werte tatsächlich nach oben. Und ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass sich es sich nicht grossartig anfühlt, 250kg beim Kreuzheben zu bewältigen. Doch dieser Trainingsansatz war ein Irrglaube, wie ich zu merken begann. Es geht einige Zeit gut bis der Schuss nach hinten losgeht. Bis der Moment kommt und der eigene Körper anfängt, zu protestieren. Bei mir begann es mit kleinen Verletzungen und endete mit einer Rückenverletzung und zwei abgerissenen Brustmuskeln.
Was nun, fragte ich mich? Diese Verletzlichkeit war neu für mich. Als mir der Arzt mitteilte, dass ich monatelang keine Kugel mehr zu Gesicht bekommen würde, traf mich das wie ein Schlag ins Gesicht. Während ich jeden Tag gegen starke Rückenschmerzen kämpfte, zweifelte ich zum ersten Mal an meinem Konzept oder gar an dem Sinn diesen Sport auszuüben. «Warum vergleichst du dich immer mit anderen Athleten und warum werde man auch ständig verglichen?», frage ich mich.
Kugelstossen ist ein Sport, bei dem man in erster Linie gegen sich selbst kämpft. Es ist kein Kopf-an-Kopf-Duell wie im Sprint, oder wie bei einer Kampfsportart, wo du dich auf jeden einzelnen Gegner neu einstellen musst. Im Kugelstossen musst du bei dir selbst bleiben. In den zwei Sekunden bis zum Stoss der Kugel muss das funktionelle Athletiktraining mit dem spezifischen Techniktraining und der Arbeit aus dem Mentaltraining verschmelzen.
Während meiner Verletzungspause wird mir mein Fehldenken plötzlich bewusst. Wie viel Zeit und Energie ich in diesem ständigen Vergleich liegen lasse. Es macht Klick bei mir, und auch mein Umfeld bestärkt mich in meinen neuen Gedanken und meinem wieder erstarkten Tatendrang. Ich weiss ich muss mein Umfeld optimieren, meinen Alltag, meinen Lifestyle als Kugelstosser nach meinen Ideen, nach meinen genetischen Voraussetzungen und nun auch nach meinen bisherigen Verletzungen ausrichten und gestalten und mich nicht von anderen Athleten, Funktionären oder sonstigen Personen ablenken lassen.
Ich verbessere meine Regeneration und kreiere verschiedene tägliche Rituale. Ich dusche jeden Morgen kalt, um meinen Kreislauf anzuregen, mein Immunsystem abzuhärten und um mich mental zu fordern. Ich gehe meine Beweglichkeitsübungen für meinen Rücken durch. Danach widme ich mich meinen Atemübungen, die ich sitzend oder liegend ausführen kann. Dabei geht es vor allem um das Erlernen der richtigen Atemweise, das bedeutet das Verwenden der Bauchatmung und das Vermeiden einer Pressatmung.
Ja, von diesen Atemübungen sieht man in den Sozialen Medien nichts, denn es wäre auch unangebracht für einen 130-Kilogramm-Brocken daheim zu sitzen und seine Atemübungen durchzugehen. Doch es sind die Schrauben, an denen ich nun drehe, um die wenigen Prozent rauszuholen, die im Wettkampf - aber auch im normalen Leben - über Erfolg oder Niederlage entscheiden.
Auch mein Training veränderte sich nach den Verletzungen stark. Ich kann mir keine schweren Lasten mehr auf den Rücken laden und damit Kniebeugen machen, und auch nicht mehr mit viel Gewicht Bankdrücken. Somit fallen zwei der Hauptübungen im Krafttraining fürs Kugelstossen weg. Dafür setze ich vermehrt auf isometrisches Training, das heisst auf Übungen, die auf einer längeren Haltezeit, mit einer grossen Spannung im Muskel, aufbauen, vergleichbar mit einer Plank oder einer sitzenden Kniebeuge an der Wand.
Auch dynamisches Athletiktraining spielt eine grosse Rolle. Dabei absolviere ich zum Beispiel viele verschiedene Sprungkombinationen oder schmettere einen Medizinball mit grösstmöglicher Kraft gegen den Boden. Ich benutze bei den Kraftübungen auch elastische Bänder, die ich mir um bestimmte Extremitäten wickle und somit die Blutzufuhr vermindere. Dies ermöglicht, mit viel weniger Gewicht, die gleichen Effekte zu erzielen. Auch die Mobilität meiner Gelenke, Muskeln und Faszien wird dadurch erhöht.
Ein weiterer Baustein ist das Neuroathletiktraining, bei dem das Training des Körpers aber auch des Gehirns gleich gewichtet werden und die Bewegungsabläufe auch von einer neuronalen Ebene angesehen werden. Man kann es sich vorstellen, wie wenn man einerseits die Hardware und andererseits die Software perfektioniert und bestmöglich aufeinander abstimmt.
Das veränderte Training zeigt Wirkung: Meine Kraftwerte sind stärker denn je, und es zeigt sich auch in der Weite und Explosivität meiner Stösse.
In der trainingsfreien Phase mache ich mir auch vermehrt Gedanken über meine Zukunft. Im Wissen, dass ich nicht bis zur Pensionierung Kugelstossen kann. Darum habe ich neben meiner Profikarriere eine Masseurausbildung abgeschlossen und bin in einer 20%-Stelle als Masseur tätig. Ich will einen Beruf ausüben, der sich gut mit dem Kugelstossen verbinden lässt. Ich geniesse bei dieser Tätigkeit den Rollenwechsel vom Athleten zum Masseur.
Auch der Ernährung schenke ich unterdessen mehr Aufmerksamkeit. Wir Kugelstösser sind ja die Schlemmer unter den Leichtathleten, denn ein halbes Kilo mehr oder weniger ist nicht unbedingt etwas Negatives. Um ein Gewicht von 130 Kilogramm bei zwei kräftezehrenden Trainingseinheiten pro Tag halten zu können, nehme ich täglich 7000-8000 kcal zu mir.
Wenn ich mit meiner Freundin koche, bereiten wir immer Essen für vier Personen zu. Davon esse ich zwei Portionen, meine Freundin eine Portion und die Übrige nimmt sie sich am nächsten Tag mit zur Arbeit. Doch wer glaubt ich kann einfach alles essen, was ich will, der liegt falsch. Um die Bestleistung abrufen zu können, muss die Ernährung auf einen persönlich perfekt abgestimmt sein - genauso wie das Training, so wie das ganze Leben. Nur wenn man seinen Weg findet, findet man auch zum Erfolg.
Gregori Ott, geboren am 4.Mai 1994, fing mit sechs Jahren in der Leichtathletik an. Aufgrund seiner Grösse kam er bald mit den Wurfdisziplinen in Kontakt und ist seit jeher davon fasziniert. Bisher hat er 17 Schweizermeistertitel in den Disziplinen Kugel und Diskus errungen und ist siebenfacher Schweizer Rekordhalter. Er lebt in Liestal im Kanton Basel-Landschaft.
Im Blog «Ungefiltert» erzählen Athletinnen und Athleten in ihren eigenen Worten aus ihrem Leben. Sie sprechen über Siege und Niederlagen, über schöne und über schwierige Momente, über das Hinfallen und über das Aufstehen. Die Athletinnen und Athleten bilden das vielfältige Gesicht des Schweizer Sports ab und zeigen, was den Sport so wertvoll macht.