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24.
Juni
2020

«Der Zyklus sollte ein natürlicher Teil des Trainingsplans sein»

Jahrelang hat die Skirennfahrerin Michelle Gisin (27) ihren Zyklus ignoriert. Erst eine Interviewanfrage hat der Olympiasiegerin die Augen geöffnet. Seit rund einem Jahr analysiert Gisin ihren Zyklus Monat für Monat und stimmt ihr Training darauf ab. In diesem Blogbeitrag schildert sie, wie sie das neue Wissen für sich nutzen kann.

«Wir sind irgendwo in den Bergen: Meine Teamkolleginnen absolvieren ihre Trainingsläufe, die Trainer analysieren die Fahrten. Ich hingegen liege unten an der Trainingspiste und krümme mich vor Schmerzen. Nichts geht mehr, die Beschwerden im Unterleib sind zu stark. Es sind diese Tage im Monat, trotzdem habe ich eine Topleistung erzwingen wollen. Das war keine gute Idee, lässt mich mein Körper nun spüren. Und das hätte ich ja wissen können.

 

“Ich arbeitete gegen meinen Körper und unterdrückte oder überhörte dessen Signale. Dafür bezahlte ich einen Preis.”
Michelle Gisin kämpfte sich viele Jahre nicht nur durch die Slalomstangen, sondern teilweise auch gegen ihren Körper.

Michelle Gisin kämpfte sich viele Jahre nicht nur durch die Slalomstangen, sondern teilweise auch gegen ihren Körper.

Hätte ich das wirklich? Als junge Athletin konnte ich mehrmals meine Trainingseinheit nicht wie vorgesehen absolvieren, weil ich so starke Unterleibsschmerzen hatte. Heute weiss ich, dass ich damals ganz einfach die Zusammenhänge nicht kannte. Es war mir nicht bewusst, welche Auswirkungen der Zyklus auf meine Leistungsfähigkeit als Spitzensportlerin hatte. Klar, starke Menstruationsbeschwerden kenne ich schon lange, einen Zusammenhang mit meinem Leben als Skirennfahrerin stellte ich damals jedoch nicht her. Ich hatte ja keine Ahnung.

Wenn ich mich müde fühlte, sagte ich mir: «Dann musst du dich heute aber besonders anstrengen.» Und das machte ich dann auch. Ich ging an diesen Tagen absichtlich ans Limit, wollte die Leistungsfähigkeit erzwingen. Vor allem im Kraftraum wurde das deutlich. Ich machte sogar mehr Wiederholungen als geplant und versuchte, extra noch mehr Gewicht zu stemmen. Ich  arbeitete gegen meinen Körper und unterdrückte oder überhörte dessen Signale. Dafür bezahlte ich einen Preis, die erwähnten Bauchkrämpfe waren ein Ergebnis davon.

“Das Wissen über meinen Zyklus trägt bei zum Blick auf das grosse Ganze als Spitzensportlerin.”

Seit rund einem Jahr verfolge ich einen anderen Ansatz: Ich will mit meinem Körper arbeiten und nicht gegen ihn. Deshalb analysiere ich seither den Verlauf meines Zyklus genau. Ich sammle quasi Daten und werte diese mit meinen Betreuungspersonen aus. So habe ich zum Beispiel gelernt, dass die Woche vor dem Menstruationsbeginn für mich die schwierigste ist. Ich habe nicht die gleiche Energie wie sonst. Ich bin empfindlich und habe manchmal extrem schlechte Laune.

Sobald die Mens eintritt, fühle ich mich ab dem zweiten Tag, wenn die Bauchkrämpfe nachlassen, tausendmal besser. In den zwei folgenden Wochen könnte ich Bäume ausreissen. Diese Erkenntnisse helfen mir enorm. Nun weiss ich, woran es liegt, wenn ich als an sich gute Schläferin unruhige Nächte habe. Ich kann mich auch auf die schwierigen Tage einstellen, indem ich bewusst mehr Zeit für die Erholung einplane. Dafür kann ich in der Trainingsplanung in jenen Wochen Schwerpunkte setzen und ans Limit gehen, von denen ich weiss, dass ich mich stark fühle.

Aktuell nutze ich dieses Wissen im Konditionstraining im Hinblick auf den nächsten Weltcup-Winter. Mein Eindruck ist, dass ich noch mehr aus den einzelnen Einheiten rausholen kann als in den Jahren zuvor. Und dass ich mich vor allem vor und während der Mens viel besser fühle. Das Wissen über meinen Zyklus trägt bei zum Blick auf das grosse Ganze als Spitzensportlerin.

 

Freudentränen bei Michelle Gisin nach ihrem Olympiasieg in Südkorea.

Freudentränen bei Michelle Gisin nach ihrem Olympiasieg in Südkorea.

Eigentlich ist es unglaublich, habe ich erst mit 26 damit begonnen, mich bewusst mit meinem Zyklus zu befassen. Aber ja, es stimmt halt schon: Es wird sehr wenig darüber gesprochen. Das kann damit zu tun haben, dass in unserer Sportart Ski alpin die meisten Trainer und Betreuungspersonen männlich sind. Doch es ist sicher nicht der einzige Grund.

Ich glaube, auch in Sportarten mit einem höheren Frauenanteil bei den Betreuungspersonen ist der Zyklus kein Thema, über das offen gesprochen, oder das bewusst in die Trainingsplanung integriert wird. Ich jedenfalls tausche mich kaum mit meinen Teamkolleginnen über den Zyklus und seinen Einfluss auf unser Befinden und unsere Leistungen aus.

Bei mir war es eine Interviewanfrage von Ursina Haller, die mir die Augen öffnete. Sie gehörte zu den besten Snowboarderinnen der Welt, unterdessen arbeitet sie als Journalistin. Als sie mich vor einiger Zeit zusammen mit anderen Athletinnen zum Umgang mit dem Zyklus befragte und einen Artikel dazu verfasste, war es das erste Mal, dass ich bewusst über dieses Thema nachdachte. Danach begann ich, mich vertieft damit auseinanderzusetzen.

 

“Es ist faszinierend, wie rasch das Thema enttabuisiert ist, wenn man beginnt, darüber zu sprechen.”
Michelle Gisin wagte den Sprung und suchte mit ihren Trainern das Gespräch zum Thema Zyklus.

Michelle Gisin wagte den Sprung und suchte mit ihren Trainern das Gespräch zum Thema Zyklus.

Als ich später mit meinen ersten Erkenntnissen auf meine Trainer zuging, bestand am Anfang durchaus eine Hemmschwelle. Bei ihnen - aber auch bei mir. Doch kaum überschritten wir diese Schwelle ein erstes Mal, war die Offenheit gross. Es ist faszinierend, wie rasch das Thema enttabuisiert ist, wenn man beginnt, darüber zu sprechen.

Ich denke, das Naturell eines Trainers hilft dabei. Sie sind bis zu einem gewissen Mass alle Tüftler. Ihr Job ist es, herauszufinden, was die Athletinnen besser macht. Seien es kürzere oder längere Skis, die richtige Zusammensetzung des Skiwachses oder halt die Abstimmung der Trainings auf den Zyklus.

Vieles wird klarer, sobald man den hormonellen Ablauf einer Sportlerin versteht und weiss, wann ihr Östrogenwert hoch ist und wann tief. Ich habe auch bemerkt, dass Grafiken den männlichen Trainern helfen, sich vertieft mit dem Thema auseinanderzusetzen. Grafiken und Zahlen kennen sie, denn sie nutzen diese ja auch sonst oft für ihre Arbeit …

Mittlerweile habe ich den Eindruck, auch der Verband hat die Bedeutung des Zyklus einer Athletin auf ihre Leistungsfähigkeit erkannt. So hat die Sportmedizinerin Sybille Matter am Trainerforum von Swiss-Ski einen Input dazu gegeben und bei den Trainern das Bewusstsein geweckt.

Das ist ein wichtiger erster Schritt. Nun sollte das Wissen aber kontinuierlich erweitert und weitergegeben werden. Das ist nicht ganz einfach. Vor allem nicht auf den tieferen Kaderstufen oder im Nachwuchs, wo die Zusammensetzung der Teams und auch die Trainer häufiger wechseln. Bei uns im Weltcup herrscht diesbezüglich mehr Kontinuität, das macht es sicher leichter.

“Mein Traum ist es, dass die jüngeren Sportlerinnen von diesem offeneren Umgang profitieren können.”

Dass der Zyklus und die Menstruation der Athletinnen in der letzten Zeit stärker diskutiert und ihre Auswirkungen besser erforscht werden – auch im Rahmen des Programms «Frau und Spitzensport» von Swiss Olympic - stimmt mich zuversichtlich. Mein Traum ist es, dass diese Punkte künftig ein ganz natürlicher Teil in der Trainingsplanung sind und die jüngeren Sportlerinnen von diesem offeneren Umgang profitieren können. Der Zyklus und die Menstruation sollen nicht länger tabuisiert werden. Im Gegenteil.

 

 

Michelle Gisin, geboren am 5. Dezember 1993, stand als Einjährige zum ersten Mal auf den Ski und ist eine der erfolgreichsten Schweizer Skirennfahrerinnen der Gegenwart. Sie hat bisher sechs Podestplätze im Weltcup errungen, 2017 wurde sie in St. Moritz Vize-Weltmeisterin in der Alpinen Kombination und 2018 in PyeongChang Olympiasiegerin in der gleichen Disziplin. Michelle Gisin lebt in Engelberg im Kanton Obwalden.