Teile den Film
«Wie ein stampfender Elefant»
Der Handballer Nicolas Raemy kämpfte nach zwei Fussbrüchen in Folge um seine EM-Teilnahme. Dabei hat er alles auf eine Karte gesetzt.
Ich spüre in mir eine alles durchdringende Ruhe. Es ist der 10. Januar 2020, und ich mache mich mit meinen Teamkollegen in der Scandinavium-Arena in Göteborg bereit für die Partie gegen Schweden. In wenigen Minuten bestreiten wir das erste Europameisterschaftsspiel einer Schweizer Handball-Nationalmannschaft seit 2006. Da ist keinerlei Nervosität, keine rasenden Gedanken, keine fahrige Bewegung. Einfach nur Vorfreude. Als die Nationalhymne ertönt, realisiere ich, dass sich mein Einsatz in den vergangenen fünf Monaten auszahlt. Dass der Weg, den ich gegangen bin, der richtige war.
Ich habe es trotz zwei Fussbrüchen in Folge in das EM-Kader geschafft. Nach einem halben Jahr ohne Handball und ohne in der laufenden Saison ein Meisterschaftsspiel bestritten zu haben. Die Genugtuung ist riesig.
Im August 2019, im letzten Testspiel vor Saisonbeginn mit meinem Klub Wacker Thun, erleide ich bei der Landung nach einem Sprungwurf einen Ermüdungsbruch im Fuss. In diesem Moment denke ich: «Ok, das ist mühsam, doch nach ein paar Wochen Pause geht es weiter, und ich habe noch Zeit, bis zur EM meine Form zu finden.» Der Chirurg im Spital Thun setzt mir eine Schraube ein, und ich starte mit der Rehabilitation. Alles verläuft problemlos. Als Angehöriger des Programms «Spitzensport und Armee» kann ich in Magglingen bei besten Bedingungen am Comeback arbeiten und mir die Zeit sogar als WK anrechnen lassen.
Acht Wochen dauert die Pause, dann steige ich wieder ins Training ein. Nach der ersten Einheit bei Wacker Thun verspüre ich zwar Schmerzen im Fuss, reise ein paar Tage später dennoch an den Zusammenzug des Nationalteams in der Hoffnung, dass es dann schon geht. Dass die Schmerzen dann anhalten, schiebe ich auf die erhöhte Belastung und will einfach einige Tage mit dem Teamtraining aussetzen. Als sich ein Kollege im Nationalteam den Fuss vertritt, fahre ich ihn zum Arzt und lasse mich dann auch in den Tomografen schieben. Ich will Klarheit. «Sch…, jetzt wird es eng mit der EM», schiesst mir durch den Kopf, als mir der Arzt mitteilt, der Fuss sei wieder gebrochen. Eine erneute Operation kommt nicht in Frage, dann wäre die EM-Teilnahme futsch.
Es bleibt nur die konservative Behandlung ohne Operation. Statt einer Schiene trage ich die nächsten Wochen einen Künzli-Spezialschuh. Wieder Reha, wieder Physio, wieder Geduld haben und kämpfen.
Eine Übung finde ich besonders mühsam: Dabei muss ich versuchen, die Zehen einzeln zu bewegen. Etwa den grossen Zeh heben, die anderen vier Zehen jedoch am Boden lassen. Das soll die kognitiven Fähigkeiten verbessern. Die Übung ist unglaublich anstrengend und erfordert so viel Konzentration, dass ich sie jeweils bloss ein paar Minuten am Stück machen kann. Dafür halt mehrmals pro Tag.
Die ersten Wochen verlaufen nicht sehr ermutigend. Der Knochen wächst einfach nicht zusammen. Ich suche Rat. Stefan Massa, früher ebenfalls Handballer bei Wacker Thun und heute Orthopäde in Bern, fertigt mir eine Karboneinlage an. Die Einlage nützt, doch rutsche ich damit im Training immer aus dem Handballschuh. Als Lösung bieten sich auch im Training Schuhe mit hohem Schaft an. Doch solche habe ich noch nie getragen, ich fühle mich unwohl, komme mir vor wie ein herumstampfender Elefant.
Kein gutes Gefühl, doch irgendwann sage ich mir: «Du kannst entweder rumjammern oder die Umstände so akzeptieren, wie sie sind.» Der Orthopäde schleift die Einlage noch ein bisschen zu, und ich trage sie von nun an mit den hohen Schuhen bei jeder Reha- und Trainingsübung, um mich daran zu gewöhnen.
«Bist du bis zum Zusammenzug am 27. Dezember fit, nehme ich dich mit zur EM», hat mir Nationaltrainer Michael Suter gesagt. Diese Perspektive hilft. Sieben Wochen bleiben, um nach dem neuerlichen Rückschlag gesund zu werden.
Nach den positiven Erfahrungen während der ersten Reha, beschliesse ich, wieder in Magglingen am Comeback zu arbeiten. Ich will unbedingt, dass mein EM-Traum trotz Verletzung wahr wird! Dafür verlasse ich meine WG in der Berner Altstadt temporär und beziehe ein Zimmer in Magglingen. Ich unterbreche de facto auch mein Sport- und Psychologiestudium. In den Hörsaal gehe ich während diesem Semester kein einziges Mal und höre mir bloss einige Vorlesungen als Podcast an.
Und natürlich bin ich weg von meinen Teamkollegen bei Wacker Thun. Für einen Mannschaftssportler ist das keine besonders schöne Erfahrung. Doch mir ist klar, dass ich für die EM-Teilnahme alles auf eine Karte setzen muss.
Die Betreuung in Magglingen ist fantastisch. Ich profitiere vom Fachwissen und Können des Fitnesstrainers und der Physiotherapeutin. Jeweils zu Beginn der Woche erhalte ich einen detaillierten Trainingsplan. Krafttraining, Ausdauer, Physioübungen, Massage usw. Der Fuss macht Fortschritte, ich merke, wie die Behandlung anschlägt. Trotzdem sind die ersten Wochen in Magglingen hart.
Ich kenne niemanden, sitze beim Frühstück, beim Mittagessen, beim Abendessen jeweils allein am Tisch im Restaurant Bellavista und zwischen den Trainings und am Abend auf meinem Zimmer. Mehrmals erlaube ich mir eine kurze Flucht nach Bern, treffe mich mit Kollegen oder gehe ins Theater. Doch es ist eine einsame Zeit. Dann aber lerne andere Sportler kennen, darunter Alain Knuser. Als Bobfahrer trainiert er oft in Magglingen, er kennt sich aus und kennt viele Leute.
Nun ist es vorbei mit der Einsamkeit. Alain und ich sind oft zusammen, gehen zum Beispiel auch mal gemeinsam fischen. Mit anderen besuche ich ein paar Mal ein Spiel des EHC Biel. Unterdessen bin ich ein richtiger Eishockeyexperte.
Doch bei all der umfassenden Betreuung kommt der 27. Dezember, der Stichtag, näher. Bei mir wächst die Unsicherheit. Wie reagiert der Fuss auf starke Belastung? Wie ist meine Form nach so langer Pause? Ich habe nun ja bereits ein halbes Jahr lang nicht mehr Handball gespielt!
Mein Vater ist Schulleiter, er ermöglicht mir über Weihnachten eine Trainingsmöglichkeit in einer Turnhalle. Ich absolviere ein paar Test, Sprintübungen, Richtungswechsel – ich fühle mich dabei so lala. Mein Selbstvertrauen ist deshalb nicht grenzenlos, als ich zum Zusammenzug des Nationalteams nach Schaffhausen reise. Doch ich will es unbedingt versuchen und mich für die EM aufdrängen.
Als das erste Training beginnt, werfe ich die ersten Bälle, und das Gefühl ist super! Ich merke, dass ich mithalten kann, das Vertrauen kehrt allmählich zurück, und ich beschliesse, mir ab sofort nicht mehr allzu viele Gedanken zu machen. Ich habe alles gegeben, um an der EM dabei zu sein. Nun habe ich es geschafft!
Nach der enormen Genugtuung vor Beginn der ersten Partie erlebe ich an der Europameisterschaft in Schweden mit dem Team ein Auf und Ab. Wir gewinnen zwar ein Spiel, schöpfen unser Potenzial aber nicht ganz aus und scheitern in der Gruppenphase. Doch nach all den Stunden, die ich in den Wochen und Monaten zuvor allein trainiert habe, nach den zahllosen Übungen für die Beweglichkeit im Fuss, schmälert das meine Freude und meinen Stolz nicht.
Ich habe es geschafft und war Teil jener Mannschaft, die erstmals seit 14 Jahren wieder eine EM bestritten hat. Mir hat diese Zeit vor allem eines gezeigt: Wer um seine Chance kämpft und etwas riskiert, der wird belohnt!
Nicolas Raemy, 27, hat bisher 65 Länderspiele für die Schweizer Handball-Nationalmannschaft bestritten. Der Rückraumspieler steht seit 2014 bei Wacker Thun unter Vertrag und feierte 2018 mit seinem Team den Schweizer Meistertitel. Soeben hat der Luzerner seinen Vertrag bei Wacker Thun um drei Jahre verlängert. Im Mai 2019, während die Saison in der Schweiz ruhte, unterstützte Raemy die San Francisco CalHeat während den Playoffs und verhalf der Mannschaft aus Kalifornien zum Gewinn des US-amerikanischen Meistertitels.
Im Blog «Ungefiltert» erzählen Athletinnen und Athleten in ihren eigenen Worten aus ihrem Leben. Sie sprechen über Siege und Niederlagen, über schöne und über schwierige Momente, über das Hinfallen und über das Aufstehen. Die Athletinnen und Athleten bilden das vielfältige Gesicht des Schweizer Sports ab und zeigen, was den Sport so wertvoll macht.