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«Mein Selbstwert darf nicht vom Siegen abhängen»
Noemi Rüegg, 21, ist seit diesem Jahr Radsport-Profi bei Jumbo-Visma aus den Niederlanden, einem der weltbesten Frauenteams. Ein Traum ist wahr geworden, doch die Umstellung aufs Profileben ist psychisch ein Kraftakt – gerade für die Zürcher Unterländerin. Persönliche Einblicke in ihre Suche nach dem Selbstvertrauen auf dem Weg an die Weltspitze.
«Mein Selbstvertrauen, wie soll ich sagen – es ist von Natur aus etwas fragil. Darüber kann ich offen sprechen, das macht mir nichts aus. Nun habe ich seit dem 1. Januar 2022 ein neues Leben als Profi-Radrennfahrerin. Als ich den Vertrag beim holländischen Weltklasseteam Jumbo-Visma unterschreiben durfte, war das ein Riesentraum und ein mentaler Boost. Doch die Zweifel kehrten schnell zurück. Manchmal macht mir mein neues Leben auch Angst, dann frage ich mich: Kann ich das überhaupt, habe ich das verdient? Bin ich dem allem gewappnet?
Aber ich mache Fortschritte. Ich kann auch solchen Fragen gedanklich immer besser Gegensteuer geben. Es ist ja nicht so, sage ich mir dann, dass ich im Lotto gewonnen habe und darum in diesem Team als Profi fahren darf. Dahinter stecken meine eigenen Leistungen, ich habe mir das erarbeitet. Und sowieso: Ich bin auch etwas wert, wenn ich meine Ziele nicht erreiche. Wenn ich verliere.
Wie diesen Sommer bei der Frauen-Schweizermeisterschaft auf der Strasse. Mein Ziel war es, die Kategorie U23 zu gewinnen. Am Ende fehlten Zehntelsekunden für den Triumph bei der Elite. Ich war Zweite und untröstlich, fiel in ein riesiges Loch, zwei Tage lang verkroch ich mich in mein Bett, wollte nur weinen. Obwohl ich mein eigentliches Ziel, den U23-Sieg, ja erreicht hatte. Statt den Sieg sah ich nur die knappe Niederlage, sie traf mich mit unerwarteter Wucht und löste schlimme Gefühle aus. Nachdem ich mich aufgerappelt hatte, sagte ich mir: Das kann es nicht sein, ich will mit Niederlagen umgehen können. Mein Selbstwert darf nicht vom Siegen abhängen. Es ist ein Prozess, den ich mit dem Einstieg ins Profileben intensivieren konnte – und auch musste.
Mein Mentaltrainer unterstützt mich in diesem Prozess. Früher war ich vor den Rennen so nervös und ängstlich, dass ich manchmal erbrechen musste. Ich stand unter enormen Druck, den ich mir selber gemacht hatte. Wollte es allen recht machen. Es brauchte eine sportliche Krise, damit ich realisierte, dass ich externe Hilfe brauchte. Ich hatte soeben meine Lehre abgeschlossen, hatte eine dürftige Saison hinter mir und stürzte mich nun komplett ins Übertraining. Ich verlor jede Balance und mich selbst in einem Strudel von Druck und Nervosität. Entsprechend waren die Resultate, in den Rennen hat nichts mehr funktioniert. Da entschied ich mich, mit einem Mentalcoach zu arbeiten.
Wir sprechen uns etwa alle zwei Wochen, meist online, ich bin ja oft unterwegs. Er lehrt mich Strategien im Umgang mit Druck und hilft mir, nicht zielführenden Perfektionismus zu identifizieren – und Muster zu durchbrechen. Wenn dir das Selbstvertrauen fehlt, kompensierst du, indem du versuchst, alles perfekt zu machen. Dann muss es immer noch mehr, noch besser sein. Das ist bis zu einem gewissen Mass gesund, ja zwingend als Spitzensportlerin. Aber es ist eine Gratwanderung. Problematisch ist, wenn dein Selbstwert abhängig ist von der Anerkennung der Anderen. Vor einigen Wochen, in der Saison-Evaluation mit dem Team, erhielt ich gutes Feedback für meine Leistungen. Das hat mir sehr gut getan. Die einzige Kritik war, dass ich zu kritisch mit mir selbst sei.
Apropos immer mehr: Die vielzitierte Work-Life-Balance ist auch im Spitzensport wichtig. Ich bin ja aus einer Generation, die dieser Balance viel Wert beimisst. Als Profisportlerin ist die Lage aber etwas speziell. Früher hatte ich die Doppelbelastung Lehre und Sport, ich war oft am Anschlag. Das jetzige Profi-Dasein ist ein traumhaftes Privileg, aber nicht einfach ein Schoggileben, wie manche denken. Obwohl ich nun mehr freie Zeit habe, ist die Gefahr, dass ich mental in einen 24/7-Jobmodus rutsche, grösser. Ich habe mich ertappt, dass ich ausserhalb des Trainings bei allem, was ich machte, mich fragte: Ist das gut oder schlecht für meine Leistung?
Ein Stück Schoggikuchen mit Freundinnen? Oh Gott, böse! Aber ich lerne, Distanz zu schaffen und weiss nun, dass der gelegentliche Schoggikuchen kein Problem ist – im Gegensatz zum Immer-an-den-Radsport-Denken. Das kostet viel zu viel Energie. Aber auch als Profi bleibt im Übrigen neben Reisen, Rennen und Training nicht viel Zeit. Das Radsport-Training ist vergleichsweise zeitintensiv.
Und so mache ich mir am Montag meinen Wochenplan. Da plane ich fix Zeitblöcke ein, an denen es nicht um Radsport gehen darf. Ein Spaziergang, alleine oder mit einer Kollegin. Ein Treffen mit der Familie. Mal ein Ausgang. Oder der Bible Study Club, da treffen wir uns einmal wöchentlich online mit anderen Radrennfahrerinnen, vor allem Amerikanerinnen, und tauschen uns über Bibel-Texte aus. Mein Glaube gibt mir Halt. Als Profis können wir am Sonntag selten in die Kirche.
Autogenes Training ist eine andere Strategie, die mir hilft, mental robuster zu werden. Oder Atemübungen zur Entspannung, die ich auch kurz vor einem Rennen machen kann. Mein Mentalcoach hat mir gezeigt, wie ich den Fokus weg vom Ziel, also dem Resultat, hin zum Weg verschieben kann. Visualisierungen helfen dabei. Ich geniesse die neue Gelassenheit, die Schritt für Schritt entsteht.
Auch vom Team selbst erfahren wir Unterstützung, etwa durch einen wöchentlichen Austausch mit unserer Trainerin, in dem auch die mentale Gesundheit Thema ist. Diese gewinnt zwar laufend an Bedeutung, wenn ich aber daran denke, wie akribisch im Radsport technische und athletische Aspekte behandelt werden, wie alles bis ins Detail ausgeklügelt wird, dann überrascht es mich teilweise schon, wie wenig Wert in unserem Sport mentalen Fragen noch beigemessen wird. Ich fände es wichtig, dass diese schon im Nachwuchs von Verbänden und Teams aktiv thematisiert werden. Dass man nicht erst darüber spricht, wenn ein Problem existiert. Damit würde man signalisieren: Es ist völlig normal, offen darüber zu sprechen und das bedeutet auch nicht gleich, dass jemand psychisch krank hat. Wer über Ernährung im Sport spricht, leidet ja auch nicht unbedingt an einer Essstörung.
Die sportliche Leiterin meines Teams sagt, ich müsse lernen, auf dem Velo eine «Bitch» zu sein. Ich weiss, was sie meint. Killerinstinkt, Ellbogen raus, auf dem Rad will ich nicht die härzige, brave, nette Noemi sein, die ich von Natur aus bin. Oder wurde, weil ich früh in diese Rolle hineingewachsen bin. Als sich meine Eltern trennten, zog meine Mutter weg und ich war plötzlich die einzige Frau im Haus mit dem Vater und zwei Brüdern, alle auch im Radsport. Ich war zuständig für Haushalt und Frieden, sehr traditionell. Wenn es Streit gab, war es an mir, zu schlichten. So bin ich heute auch auf dem Velo, ich will es gut haben mit den anderen. Das geht nicht, wenn du an die Weltspitze willst. Dieser Switch, Umschalten auf Modus Killerinstinkt, fordert mich als Profi mental sehr. Aber ich lerne gerne.
Rund 200 Tage im Jahr bin ich unterwegs, da fällt es mir, die es allen recht machen will, schwer, es allen recht zu machen; neben der guten Profifahrerin meinen Freundinnen eine gute Freundin zu sein. Oder meinen Eltern eine gute Tochter. Dann kommen die bösen Gedanken wieder, drohen, mich in ein Loch zu stürzen. Du genügst nicht, sagen sie, du vernachlässigst deine wichtigsten Menschen. Der Druck, er kommt wieder von mir selbst, mein Umfeld unterstützt mich voll auf meinem Weg. Als Perfektionistin ist es aber schwierig, solche Dilemmata des Profilebens auszuhalten. Wie auch die Einsamkeit, die aufkommen kann, wenn man ständig weg von zuhause ist. Manchmal weine ich dann.
Doch mir geht es gut heute. Meine erste Profisaison mit vielen tollen Höhepunkten ist zu Ende, nächstes Jahr wird das zweite meines Zweijahresvertrags bei Jumbo-Visma. Der Druck wird nicht kleiner. Doch die Freude und Passion auch nicht. Ich gebe weiterhin mein Bestes. Das muss reichen.»
Aufgezeichnet von Pierre Hagmann, Medien und Information Swiss Olympic
Der Traum von Olympia
Noemi Rüegg (21) stammt aus einer radsportverrückten Familie im zürcherischen Oberweningen. Sowohl ihr Vater als auch ihre beiden Brüder waren und sind im Radport aktiv, ihr Bruder Timon ebenfalls als Profi im Radquer. Als Highlights ihrer ersten Profisaison nennt sie – nebst den beiden Schweizermeister-Titeln U23 im Zeitfahren und Strassenrennen – die Teilnahme an der Tour de France der Frauen, die 2022 erstmals überhaupt stattfand. Noemi Rüegg beendete die Tour als drittbeste Schweizerin auf Rang 108. Ihr nächstes grosses Ziel ist eine Medaille an den U23-EM und WM. Längerfristig ist ihr Traum, an Olympischen Spielen teilzunehmen. Sie ist Mitglied des Strassen-Nationalkaders der Frauen.
«Frau und Spitzensport» - ein Projekt, das spezifisch weibliche Themen in den Fokus rückt
Das Projekt «Frau und Spitzensport» unterstützt Athletinnen im Spitzensport. Im Fokus stehen dabei spezifisch weibliche Themen, welche für das Training, die Ernährung und Erholung leistungsrelevant sind.
Im Rahmen des Projekts «Frau und Spitzensport» rückt Swiss Olympic im Herbst 2022 unter anderem das Thema «Psyche von Athletinnen» in den Fokus. In Verbindung dazu entstand neben diesem Blogbeitrag die Infografik Psyche (in Zusammenarbeit mit drei Sportpsychologinnen) sowie eine neue Podcast-Episode. Die Inhalte bieten einen Überblick über die verschiedenen Einflussfaktoren auf die Psyche einer Athletin und setzen sich vertieft mit der Thematik auseinander.
Im Blog «Ungefiltert» erzählen Athletinnen und Athleten in ihren eigenen Worten aus ihrem Leben. Sie sprechen über Siege und Niederlagen, über schöne und über schwierige Momente, über das Hinfallen und über das Aufstehen. Die Athletinnen und Athleten bilden das vielfältige Gesicht des Schweizer Sports ab und zeigen, was den Sport so wertvoll macht.