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«Alles oder nichts»
Vor 20 Jahren lieferte Xeno Müller seine letzte grosse Leistung als Athlet ab. Er gewann an den Olympischen Spielen in Sydney 2000 in einem hart umkämpften Rennen die Silbermedaille. Heute gibt Xeno Müller sein Wissen an junge Ruderinnen und Ruderer weiter.
23. September 2000. Ich wache auf mit Halsweh und ein bisschen Husten. Ich denke, verdammt, muss das jetzt sein?
Heute soll mein grosser Tag werden, ich bestreite mein Rennen über 1500 Meter an den Olympischen Spielen in Sydney. In den vergangenen Tagen und Wochen habe ich doch jede noch so winzige Massnahme befolgt, um mein Immunsystem nicht unnötig zu strapazieren. Selbst die Eröffnungsfeier vor ein paar Tagen habe ich ausgelassen. Denn so schön die auch ist: Ein Athlet bereitet sich vier Jahre auf diesen Moment vor, geht allen Risikofaktoren so gut es geht aus dem Weg und dann marschiert er nach langen Wartezeiten mit tausenden von Menschen, die er nicht kennt, in ein Stadion ein.
Die Vorläufe und das Halbfinale in Sydney sind nach Plan verlaufen, und ich habe jedes Mal eine gute Zeit hingelegt. Ich bin dennoch ein bisschen beunruhigt. Denn nach dem Halbfinal am Donnerstag wollte mein Ruhepuls nicht unter 80 Schläge sinken. Normalerweise habe ich einen Ruhepuls von 34 Schlägen. Dies gibt mir zu denken, insbesondere weil ich seit ich 24 Jahre alt bin, mit Herzrhythmusstörungen zu kämpfen habe.
Nach einem Ruhetag am Freitag ist der Final für Samstag angesetzt. Ich musste am Freitag auch keine Interviews geben. Da war ich erleichtert. Denn ich kenne die Journalisten - einige von ihnen entlocken mir extra markante Aussagen, was dann wiederum in der Öffentlichkeit nicht immer gut ankommt. Vor allem wenn Hintergrunddetails ausgelassen werden.
Nach der Schrecksekunde beim Aufwachen fühle ich mich trotz kratzigem Hals so stark wie noch nie zuvor. Der Fakt, dass Sydney 2000 meine dritten Olympischen Spiele sind, und dass ich als Titelverteidiger ins Rennen gehe, gibt mir enorm viel Kraft und Selbstvertrauen.
Am Samstagmorgen herrscht eine super schöne Stimmung auf dem Sydney International Regatta Center. Es ist absolut windstill und der Himmel ist blau und klar. Ich steige in mein Boot und meine Ruderschläge sind gleichmässig und kraftvoll und das Boot gleitet wie ein Fisch im Meer. Ich sehe meine Frau und meine zwei Kinder am Ufer, meine Schwiegermutter und auch meinen Trainer Marty Aitken, und ich spüre förmlich die Zuversicht aller. Nach dem Startsignal ziehe ich los und führe einen perfekten Ruderschlag nach dem anderen aus. Ich spüre die Spannung von meinen Fingerspitzen bis zu meinen Füssen, habe keinen Widerstand während der Fahrt, es ist ein endloses Gleiten. Ich komme in einen Flow-Zustand und bin trotzdem überrascht, dass ich allen meinen Konkurrenten bereits zu Beginn des 1500-Meter-Rennens davonrudere. Normalerweise bin ich bekannt für meine schnellen Endspurts und nicht für meine Anfangsgeschwindigkeit.
Gleich darauf werde ich negativ überrascht: Ich sehe es nicht kommen, doch auf einmal merke ich, wie ich einbreche, wie ich dieses Tempo nicht halten kann. Es sind noch 500 Meter bis zur Ziellinie. Der Neuseeländer Rob Waddell fährt an mir vorbei und ich denke nur «Scheisse», da muss ich dranbleiben, sonst ist Gold weg. Auch der Deutsche Marcel Hacker und der Kanadier Derek Porter schliessen zu mir auf, und mein einziger Gedanke ist: «Nur nicht Vierter werden!»
Erinnerungen an meine erste Junioren-Schweizermeisterschaft kommen hoch. Damals hatte mir ein Tessiner auf der Aussenbahn auf den letzten Metern völlig unerwartet die Goldmedaille weggeschnappt. Ich reisse mich zusammen, richte meinen Blick aufs Heck - denn mit jedem Blick aus dem Boot verlierst du Zeit - und gebe alles was meine Lungen noch hergeben.
Ich fahre über die Ziellinie und höre vier kurze aufeinanderfolgende Signaltöne. Einen Moment lang habe ich keine Ahnung, welchen Platz ich belegt habe, ich bin zu erschöpft, um den Blick nach oben zu richten. Eine Helferin bringt mir etwas zu trinken, und ich frage welchen Rang ich belegt habe. Die junge Frau antwortet mir, ich sei Zweiter.
Ich breche in Freudentränen aus. Ich habe Freude, dass es vorbei ist, Freude, dass ich eine Medaille geholt habe und Freude, dass ich nicht Vierter wurde. Ich fahre zum Steg und umarme meine Frau. Ich fühle eine pure Erleichterung und Erfüllung.
Mein Plan ist aufgegangen. In einem perfekt abgestimmten Trainingscamp in Australien konnte ich mich optimal vorbereiten. Alle anderen Ruderer trainierten zweimal täglich, und zwar gegen 9.00 und 15.00 Uhr. Da ich jedoch meine Familie dabeihatte und ich es generell bevorzugte einen freien Nachmittag zu haben, ging ich immer schon frühmorgens um 7.00 auf das Wasser und erledigte meine zweite Trainingseinheit bereits um 12.00 Uhr. Danach besuchte ich zusammen mit meiner Familie die Strände von Coolangatta südlich von Brisbane und liess mir auch die verschiedenen Wildressorts nicht nehmen. Diese Ausflüge waren eine wahre Bereicherung und ein willkommener Ausgleich.
Nach dem Rennen und der Medaillenzeremonie in Sydney fahre ich mit meiner Familie zurück in die Blue Mountains Bergkette, wo wir zu diesem Zeitpunkt ein Haus hatten und geniesse den restlichen Tag ganz entspannt. Ich sitze auf der Terrasse, sauge die beeindruckende Kulisse der Bergkette vor meinen Augen auf und lasse meine drei Olympiateilnahmen im Kopf Revue passieren. Ich sehe die Bilder von 1992, wo ich im Halbfinal ausschied, jedoch viel dazulernte und die Bilder von 1996, wie ich mir mit 24 Jahren in Atlanta meinen Traum erfüllte. Jenen Traum, der mich seit dem ersten Mal, als ich in einem Ruderboot sass und mit gleichmässigen Ruderschlägen auf dem klaren Wasser dahinglitt, nicht mehr losliess. Den Traum eine Goldmedaille im Einzel Skiff der Männer an den Olympischen Spielen zu holen. Dieses Ziel habe ich in Atlanta erreicht, und um ehrlich zu sein, hatte ich in dem Moment nach den Olympischen Spielen 1996 die Nase voll vom Rudern, von jenem Sport, zu dem ich bis zu diesem Zeitpunkt eine Hassliebe pflegte.
Mein tägliches Motto lautete: «Alles oder Nichts», «Leben oder Tod». Dem Rudern ordnete ich alles unter. Mein Alltag bestand aus Training, Essen, erneutem Training und Schlafen. Da ich kurz nach den Spielen in Atlanta meine Frau, eine Kalifornierin, heiratete, setzte ich nach dem Olympiasieg andere Prioritäten und dachte mir ich brauche eine richtige Arbeit. Acht Monate lang stieg ich in kein Ruderboot, ich nahm entsprechend an Gewicht zu.
Doch in dieser ruderfreien Phase wurde mir bewusst, wieviel mir der Sport eigentlich bedeutet und wie sehr ich es liebe, auf Ziele im Rudern akribisch hinzuarbeiten. Mit dieser Neuausrichtung meiner Gedanken und im Bewusstsein, an den Spielen 2000 in Sydney erst 28 Jahre alt zu sein, stieg ich wieder ins Ruderboot und strebte meine dritte Olympiateilnahme an. Da meine Frau und ich rasch zwei Kinder bekamen, musste ich mein Umfeld bis auf das kleinste Detail perfektionieren. Ich hatte das Glück, mit dem Schweizer Nationaltrainer Marty Aitken einen Coach an meiner Seite zu haben, der es völlig verstand, dass ich meine Familie stets dabeihaben wollte, wenn unser gemeinsames Projekt Sydney 2000 Erfolg haben sollte.
Wenn ich jetzt auf das alles zurückblicke und meine Silbermedaille anschaue, muss ich schmunzeln, denn mein Plan, oder besser gesagt unser Plan, ging perfekt auf. Dafür bin ich einfach dankbar - und auch ein bisschen stolz.
Die Olympischen Spiele 2000 sind für mich mit meinem Silber-Rennen vorbei, denn wie an Olympiateilnahmen zuvor bleibe ich nicht für den Rest der Spiele vor Ort. Vor meiner Abreise kommt es dann noch zu einer kurzen Reiberei mit dem Delegationschef der Schweiz. Nachdem meine Bitte abgelehnt wird, meinem Physio mein Bett im Olympischen Dorf zu überlassen, nehme ich gegenüber dem Delegationsleiter ein unfreundliches Wort in den Mund, und komme, weil das auch die Medien erfahren, sofort wieder in die Schlagzeilen.
Heute würde ich vielleicht eine andere Wortwahl treffen, doch das Anliegen ist für mich und mein Team zu diesem Zeitpunkt von Bedeutung, da mir der Physio wirklich durchgehend zur Seite gestanden hat und er es wirklich verdient gehabt hätte. So muss er ebenfalls mit uns abreisen.
Ich war und bin halt generell eine Persönlichkeit, die ausspricht was sie denkt. Die meisten Topathleten sind Personen mit eigenen Vorstellungen und halt auch einem aussergewöhnlichen Charakter. Bei den Olympischen Spielen ist man als Sportler dann noch mehr am Limit, alles ist optimiert, man hat den Fokus auf sein Ziel ausgerichtet, man ist mental auf Vollgas eingestellt und man überlegt sich nicht jedes Wort zweimal.
Olympiasilber in Sydney war das letzte Highlight meiner Aktivlaufbahn. Nach den Olympischen Spielen in Sydney wechselte unser Nationaltrainer Marty Aitken nach England. Trainerwechsel können oftmals Gutes bewirken, doch für mich war es ein Verlust, da wir über Jahre alles bestens optimiert hatten und so meine Sportkarriere gleichzeitig mit meiner Familie und meinem amerikanischen Wohnort unter einen Hut bringen konnten. In der Saison 2001 erreichte ich an der Weltmeisterschaft zwar den Final, verpasste aber eine Medaille. Es wurde zunehmend schwieriger alles miteinander zu verbinden und so beschloss ich 2002 meine Karriere zu beenden.
2003 und 2004 versuchte ich noch ein Comeback für die USA, aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits drei Kinder, mein eigenes Indoor-Ruderstudio, in dem ich selbst die Kurse gab, dazu kamen Bedenken als amerikanischer Staatsbürger, der ich unterdessen war, an den Olympischen Spielen 2004 in Athen zu starten. Politisch brodelte es zu jener Zeit, da gerade der Irakkrieg ausgebrochen war. Kurz vor Beginn der Qualifikation beschloss ich es sein zu lassen und einen neuen Weg zu gehen.
2008 bekam ich mit meinem Ruderstudio die Finanzkrise hart zu spüren. Damals hatte ich ein Gespräch mit zwei Freunden, die beide im Marketing tätig waren. Sie sagten mir: «Xeno, räum deine ganzen gratis Informationen von deinem YouTube-Kanal! Du bist der Michael Jordan des Ruderns, du musst deinen Wert in dieser Branche erkennen!». So kam es nach einer stressigen finanziellen Übergangsphase, die über ein Jahr andauerte und in der wir für alle Probleme Lösungen fanden, zu meinem ersten Online-Coaching-Business.
Der Markt in den USA ist riesig. Junge Ruderer schneller zu machen, darauf habe ich mich nun spezialisiert. Ich stehe den Athleten zur Seite, analysiere ihre Videos und gebe Ihnen Feedback zu Technik und Taktik.
Viele trainieren planlos und zu viel, bei anderen fehlen einfach einzelne Bausteine. Daher schreibe ich ihnen Trainingspläne und setze mit ihnen realistische Ziele. Gutes Coaching zeichnet nicht nur das Wissen über das Rudern aus, sondern beinhaltet positives Belehren, Zukunftsplanung und Hilfe bei Entscheidungen. Pädagogisches Wissen ist mindestens so wichtig wie Fachwissen, denn die jungen Leute brauchen eine Vertrauensperson. Mit einigen Ruderern arbeite ich bereits seit Jahren zusammen und zu sehen, wie sie sich sportlich, aber auch menschlich entwickeln, erfüllt mich mit Stolz. Was sie im Sport lernen, können sie auch in anderen Lebensbereichen anwenden.
Mir selbst gab der Rudersport eine Identität sowie etwas an dem ich mich festhalten konnte. Da mein Vater lange im Ausland arbeitete, lebte ich jeweils drei Jahre in der Schweiz und in Spanien, zwei Jahre in Deutschland und elf Jahre in Frankreich. Das Rudern war eine Konstante, und meine diversen Trainer wichtige Wegbegleiter. Ich bin ihnen allen dankbar, denn durch ihr Wissen, das sie mir weitergaben und meine eigenen Erfahrungen, kann ich nun mein Online-Coaching betreiben. Und so bestreite ich heute meine Existenz mit meinen vier Kindern und meiner Frau mit mehreren Haustieren in Costa Mesa, Kalifornien.
Xeno Müller, 48, hat an drei Olympischen Spielen teilgenommen – 1992 in Barcelona, 1996 in Atlanta (Gold) und 2000 in Sydney (Silber). Er studierte Internationale Beziehungen in den USA und lernte dort, kurz vor den Olympischen Spielen in Atlanta 1996, seine heutige Frau kennen. Seitdem lebt er in Costa Mesa, Kalifornien/USA startete jedoch bis 2002 weiterhin für die Schweiz. Mit seiner Frau hat er vier Kinder (drei Söhne und eine Tochter), die 22, 21, 18 und 12 Jahre alt sind. Seine älteren Kinder begeistern sich für Musik, respektive Kunst. Die Herzrhythmusstörungen hat Xeno Müller mithilfe einer erfolgreichen Operation überwunden.
Im Blog «Ungefiltert» erzählen Athletinnen und Athleten in ihren eigenen Worten aus ihrem Leben. Sie sprechen über Siege und Niederlagen, über schöne und über schwierige Momente, über das Hinfallen und über das Aufstehen. Die Athletinnen und Athleten bilden das vielfältige Gesicht des Schweizer Sports ab und zeigen, was den Sport so wertvoll macht.