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«Es gibt nur den 31. Juli»
Wenn die Zürcherin Julie Derron Ende Monat in Paris zum olympischen Triathlon antritt, hat sie eine mehrjährige Reise der Gefühle und Trainings hinter sich – unter anderem mit einem intensiven, viermonatigen Camp in China. Ein persönlicher Rückblick auf ihren eigenen, weiten Weg zum Tag X.
«Mein ganzes Leben ist momentan auf den 31. Juli 2024 ausgerichtet. Alles ordne ich diesem Tag, diesem Ziel unter – Olympische Sommerspiele, der Triathlon in Paris, 1,5 km Schwimmen, 40 km Velofahren, 10 km Laufen. Ich will ein olympisches Diplom gewinnen, also unter die besten acht laufen. Wenn alles perfekt läuft, wenn all das, was ich täglich investiere, aufgeht, liegt vielleicht auch eine Medaille drin. Dann müsste ich mich auch bei ein paar Chinesinnen bedanken. Aber dazu später.
Denn diese Geschichte beginnt viel früher, am 24. Juni 2021 um genau zu sein. Es war der Tag, als Swiss Olympic die Triathlon-Selektion für die Sommerspiele Tokio 2021 bekanntgab. Mein Name war nicht dabei, und das war schon sehr enttäuschend. Ich schwor mir: Das sollte mir nicht noch einmal passieren. Also legte ich mich ins Zeug – für die nächsten Olympischen Spiele sollte kein Weg an mir vorbeiführen. Am 6. Juni 2024 kam schliesslich der Anruf, für den ich all die Zeit gearbeitet hatte. Unser Nationaltrainer meldete: Julie, du bist offiziell für Paris 2024 selektioniert. Ich ging zu meiner Schwester ins Zimmer und wir machten einen kleinen happy dance. So viel Freude und Stolz!
Die gezielten Vorbereitungen für den Olympia-Triathlon vom 31. Juli laufen seit rund neun Monaten. Und weil ich in dieser Phase alles dem Sport unterordne, kam es, dass ich mich plötzlich in Yuxi wiederfand. Eine kleine chinesische Stadt im Südwesten des Landes, 2,2 Millionen Einwohner… Dort verbrachte ich vier Monate im Trainingslager, von Januar bis Mai. Der Grund ist einfach: Mein Coach, der Australier Brett Sutton, ist seit 2022 auch der Coach der chinesischen Triathlon-Nationalmannschaft. Wenn wir uns täglich sehen, ist mein Training spezifischer und besser, denn Brett weiss dann noch genauer, was ich gerade brauche; wie müde ich bin, ob er mich mehr oder weniger pushen kann. Also folgte ich der Einladung, dieses Trainingscamp zusammen mit rund zwölf chinesischen Triathletinnen und Triathleten zu absolvieren. Ich habe im letzten Jahr meinen Master in Lebensmittelwissenschaften an der ETH Zürich erfolgreich abgeschlossen und war jetzt frei, mich ganz auf den Sport zu konzentrieren. Eigentlich sollte ich nach drei Monaten in China zurück in die Schweiz für meine Masterfeier. Doch mit der Aussicht, noch einen Monat ungestört weiter trainieren zu können, entschied ich mich anders. Ich verpasste die Masterfeier und blieb in China. Der Sport hatte bei mir schon immer diese ultimative Priorität.Das Uni-Diplom würde ich ja trotzdem erhalten. Mein Fokus gilt dem olympischen Diplom.
Fünf Stunden Sport – jeden Tag
Dinge zu opfern und Menschen zu vertrösten, das fällt viel leichter, wenn es sportlich läuft. Aber klar, es schafft Distanz zu Familie und Freunden, wenn man auf einer solchen Mission ist und vier Monate in China trainiert. Auch in der Schweiz muss ich oft absagen, wenn ich von Freundinnen eingeladen werden. Oder ich werde gar nicht mehr eingeladen. Ich verpasse Geburtstagsfeste, Hochzeiten, das «normale» Leben. Meine Freundinnen und Eltern zeigen viel Verständnis, sie wissen, es ist zeitlich begrenzt. Doch manchmal ist es hart. Ein gutes Erlebnis im Training oder im Wettkampf reicht aber, und die Zweifel verschwinden. Und ich sehe es weniger als Opfer, sondern eher als bewusste Entscheidung für einen Weg, den ich gehen will und der mir sehr viel zurückgibt.
In China war zum Glück für eine Weile auch meine Schwester im Camp, auch sie ist Triathletin, sowie einige andere Athletinnen und Athleten aus Europa. Zusammen machten wir auch mal einen Ausflug mit dem Scooter, wenn wir nicht gerade am Trainieren waren. Aber als Triathletin trainierst du eigentlich immer. Das erste Training startete um 7 Uhr, meist knapp 2 Stunden Schwimmen im Hallenbad. Danach gab es Frühstück. Dann hatten wir eine kurze Pause, bevor um 11 Uhr das zweite Training anstand. Danach gab es Mittagessen. Nach einer weiteren Pause stand um 16 Uhr das dritte Training an. Danach gab es Nachtessen. Im Anschluss gabs vielleicht noch eine Massage, oder ich ging direkt auf mein Zimmer und gegen 9, halb 10 ins Bett, mit insgesamt rund 5 Stunden Sport in den Beinen.
Das sind nicht sehr spannende Tagesabläufe, aber mir macht das Training im Moment viel Spass. Die Tage gleichen sich und fliessen ineinander, egal ob Dienstag oder Sonntag, ein Wochenende in dem Sinn kannten wir nicht, das gilt auch später, wenn wir unser Sommercamp in St. Moritz haben. Die Trainingspläne beruhen auf Zyklen von 10 Tagen, und doch erfahren wir meist erst am Morgen, was genau der Rest des Tages bringt. Das hilft mir, mental frisch zu bleiben. Die meisten Triathletinnen tendieren dazu, sich pedantisch an einen Plan halten zu wollen. Wenn es im Voraus keinen gibt, geht das gar nicht und du bleibst im Geist flexibler.
Meistens ist das Training so aufgebaut, dass wir nur jeden zweiten Tag Lauftraining machen, um die Verletzungsgefahr zu reduzieren, weil das Laufen die grösste Belastung darstellt. Einen besonderen Fokus legten wir auf den Wechsel vom Velo auf die Laufstrecke, damit ich parat sein werde, wenn das Starttempo zu Fuss sehr hoch ist.
Manchmal sagt Brett am Morgen auch: Heute Ruhetag. Ich bin dann meist eher überrascht und spüre erst im Verlauf des Ruhetages, was er schon wusste: dass ich die Erholung wirklich nötig hatte.
Ich liebe die Abwechslung der Disziplinen, aber manchmal ist es hart, sich für das dritte Training des Tages aufzuraffen. Es ist oft ein Kampf gegen die eigene Müdigkeit. Doch das Ziel hilft als Fixstern. Dann gibt es in meinem Kopf nur noch den 31. Juli.
Training auf Chinesisch
Hilfreich war auch, dass wir in China immer in der Gruppe trainierten, man pusht sich gegenseitig. Vor allem bin ich jetzt dank den Chinesinnen eine bessere Schwimmerin. In dieser Disziplin waren sie mir voraus, da gehst du ans Limit, um mitzuhalten und lernst viel dazu. Im letzten Jahr verlor ich beim Schwimmen noch 45 Sekunden auf die Spitze, jetzt sind es nur noch 20. Es bleibt meine schwächste Disziplin, aber diese Fortschritte können in der Gesamtabrechnung zwischen Top 10 oder 20 entscheiden. Ich bin also gespannt auf die Seine, und ich hoffe, wir können wirklich schwimmen. Es ist die Frage, die mir mit Abstand am meisten gestellt wird – ob das wirklich was wird mit Schwimmen in der Seine. Ich nehme das recht gelassen, und wenn das Wasser nicht durch zu viel Regen verunreinigt wird, sollte es klappen.
Ich denke, die chinesischen Athletinnen und Athleten konnten aber auch von mir profitieren. Einerseits war ich insgesamt auf einem höheren Niveau, andererseits konnte ich auch die Mentalität vorleben, die es braucht für diesen Sport. Die Menschen in China wachsen in einem System auf, das ihnen genau vorgibt, was zu tun ist, und das tun sie – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Eigeninitiative ist ihnen oft fremd. Wer im Triathlon Erfolg haben will , muss an die Grenzen, auch aus eigenem Antrieb. Und du musst in einem zweistündigen Rennen ständig kleine Entscheidungen treffen, das verlangt selbständiges Denken und Handeln. Wann und wo zum Beispiel investiere ich etwas extra Energie? Ich habe versucht, ihnen vorzuleben, was es heisst, ein selbständiger Mensch zu sein. Der Weg im Rennen ist für alle gleich, doch der Weg bis zum Rennen ist sehr individuell. Darauf achtet auch Brett in seiner Trainingsgestaltung.
Für die Kommunikation mit den Chinesen hatten wir immer einen Dolmetscher dabei, und auch sonst waren wir gut umsorgt. Wir wohnten in einem Hotel auf dem Areal eines Sportzentrums, es wurde für uns gekocht und geputzt, fast alles ausser das Trainingwurde uns abgenommen. Das Essen in der Kantine war sehr gut, doch die Chinesen waren zunächst nicht zufrieden und liessen dann eigens neue Köche aus Shanghai einfliegen. Die Athleten durften nicht ausserhalb der Kantine essen, wegen der Gefahr kontaminierter Speisen. Uns Europäern wurde geraten, auswärts auf Rind, Schwein und Kalb zu verzichten, wegen möglichen Substanzen, die du bei einer Dopingkontrolle nicht im Blut haben willst.
Das Gefühl, nichts zu leisten
Auch ich überlasse in der Vorbereitung auf den 31. Juli nichts dem Zufall. Das Rennen startet um 8 Uhr morgens, das fliesst in die Planung ein. Wir haben mit Brillen experimentiert, welche Blaulicht simulieren und wacher machen, weil um 5 Uhr, wenn ich werde aufstehen müssen, das natürliche Sonnenlicht noch schwach ist. Seit über einem Jahr testen wir zudem, welche Verpflegung ideal ist. Für die Velostrecke auf den Pariser Pflastersteinen haben wir uns Gedanken zum passenden Material gemacht. Es gibt immer etwas zu verbessern im Triathlon.
Ich geniesse es deshalb, nun da das Studium abgeschlossen ist, voll auf Triathlon zu setzen. Manchmal fehlt mir in der Schweiz aber noch die gesellschaftliche Akzeptanz für den Spitzensport als Beruf. Ich höre oft: «Ah, Triathlon – und was machst du sonst?» Dann habe ich abends manchmal das ungute Gefühl, nichts geleistet zu haben, obwohl ich drei harte Trainings hinter mir habe. Aber ich lerne dazu und weiss heute mit gutem Gewissen, dass es zu meinem Job gehört, um 15 Uhr auf dem Sofa zu liegen und mich zu erholen.
Bald ist er da, der 31. Juli. Ich muss im Moment bleiben, sonst werde ich zu nervös. Das war in der ganzen Vorbereitung das Wichtigste, aber auch das Schwierigste. Und nach dem 31. Juli? Fünf Tage später trete ich noch im olympischen Team-Wettkampf an. Danach kommt vielleicht ein Loch, wer weiss. Doch das Leben als Triathletin, es wird weitergehen. Es gibt so viele coole Wettkampfserien im Triathlon – und damit viele weitere Ziele. Ein paar habe ich schon im Hinterkopf.»
Aufgezeichnet von Pierre Hagmann, Medienteam Swiss Olympic
Weltspitze über die Olympische Distanz
Julie Derron, 27, stammt aus Zürich und zählt zur Weltspitze auf der Olympischen Distanz (1,5 km Schwimmen, 40 km Radfahren, 10 km Laufen). Dieses Jahr feierte sie schon mehrere internationale Erfolge, unter anderem mit dem Sieg beim World Triathlon Cup im chinesischen Chengdu. Dank Unterstützung der Schweizer Sporthilfe, diversen Sponsoren und den Preisgeldern kann sie heute vom Triathlon leben. Das Preisgeld für einen Sieg im Weltcup (zweithöchste Stufe) beträgt 7500 Dollar, hinzu kommen Sponsoren-Prämien. In Paris bildet sie zusammen mit Cathia Schär, Max Studer und Adrien Briffod das Schweizer Triathlon-Team.
Ungefiltert – Geschichten aus dem Schweizer Sport
Offen gesagt: Im Blog «Ungefiltert» erzählen Persönlichkeiten aus dem Schweizer Sport in eigenen Worten von aussergewöhnlichen Momenten und prägenden Erfahrungen. Von Siegen und Niederlagen, im Leben und im Sport. Wir freuen uns über Inputs für gute Geschichten, gerne auch die eigene: media@swissolympic.ch