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09.
November
2022

«Im Kosovo gibt es für Unihockey keinen Namen»

Der Kosovo-Albaner Luan Misini war dreimal Trainer des Jahres im Schweizer Unihockey, gewann in den letzten Jahren mit GC Titel um Titel. Diese Woche spielt er als Assistenztrainer mit der Schweizer Nationalmannschaft um den grossen Coup an der Heim-WM. Eine persönliche Geschichte über Identität, Flucht und Tod – und einen speziellen Zettel.

«Spiel doch weiterhin Fussball, wie alle anderen Kinder auch, sagten meine Eltern oft. Unihockey kannten sie nicht, für sie war das kein Sport und rätselhaft. Vor allem war ihnen unverständlich, wie ich so viel Zeit und Energie in etwas stecken konnte, das eine lukrative Karriere nicht mal ansatzweise in Aussicht stellte – das ergibt aus kosovarischer Perspektive wenig Sinn. Auch darum gehen alle zum Fussball. Der Traum vom grossen Geld, vom sozialen Aufstieg und Prestige, er wirkt weiterhin stark. Das kann ich gut nachvollziehen, wenn ich denke, wie die Menschen im Kosovo leben.

“Es fühlte sich an wie in einem sonderbaren Film.”
Im Unihockey ein neues Zuhause gefunden: Luan Misini im WM-Gruppenspiel gegen Norwegen.

Im Unihockey ein neues Zuhause gefunden: Luan Misini im WM-Gruppenspiel gegen Norwegen.

Prestige interessiert mich nicht. Ich liebe einfach das Unihockeyspiel. Als Kosovare bin ich in diesem in der Schweiz so populären Sport eigentlich ein Exot. Als Exot fühle mich heute aber nur, wenn ich im Kosovo bin. Das kommt sehr selten vor. Ende Oktober aber, kurz vor WM-Start und entsprechend unplanmässig, landete ich zum ersten Mal seit 2008 wieder im Kosovo. Mein Vater, der bis zuletzt mit meiner Mutter in Basel wohnte, war nach langer Krankheit gestorben. Für die Beisetzung nach kosovarischer Tradition sind wir gleich nach seinem Tod hingereist. Zwei Tage war ich zurück in der Heimat meiner Familie, 1800 Kilometer und Welten entfernt, wo niemand ein Handy braucht, um abzumachen, weil so vieles spontan und in eng verflochtenen sozialen Netzen geschieht, wo die Menschen täglich kämpfen, um ihre Existenz zu bestreiten. Mitten in der Vorbereitung für diese WM im eigenen Land, und das ist die Schweiz heute – mein Land – , fand ich mich plötzlich in meiner Ex-Heimat wieder, die ich als 12-Jähriger verlassen hatte, kurz bevor der Krieg über den Kosovo hineinbrach, und schüttelte zwei Tage lang Hände von sehr fremden Menschen. Es fühlte sich an wie in einem sonderbaren Film.

“Bevor der Krieg startete, zogen wir in die Schweiz, in die Sicherheit. Klein-Luan und seine beiden Brüder wurden entwurzelt und in Biel, wo mein Vater eine Stelle fand, wieder eingepflanzt. Mein neues Leben konnte beginnen. ”

Ich bin in Ferizaj geboren und aufgewachsen, 45 Minuten südlich der Hauptstadt Pristina, und habe Fussball gespielt wie alle Buben in Kosovo. Es war eine gute Kindheit, der Kosovo ein schönes Land, bevor der Krieg kam. Schon damals war ich aber stark vom Reiz des Unbekannten getrieben. Die USA und Europa, vor allem Skandinavien, das waren Sehnsuchtsorte. Weil die ökonomischen Perspektiven schlecht waren, arbeitete mein Vater als Saisonier in der Schweiz. Neun Monate pro Jahr, fern der Familie, eiserne Disziplin. Nach vier solchen Jahren erhielt er eine Aufenthaltsbewilligung, Ausweis B. Bevor der Krieg startete, zogen wir in die Schweiz, in die Sicherheit. Klein-Luan und seine beiden Brüder wurden entwurzelt und in Biel, wo mein Vater eine Stelle fand, wieder eingepflanzt. Mein neues Leben konnte beginnen.

In Biel machte ich weiter, womit ich in Ferizaj aufgehört hatte: Fussball, Fussball, Fussball. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein einigermassen sportlicher kosovarischer Secondo in der Schweiz im Fussball landet, ist nahe 100. Auch ich schlug diesen Weg ein. Doch meine Neugierde fürs Neue war gross.

Das Spiel mit den Emotionen: Misini im WM-Spiel gegen Norwegen und als GC-Coach (r.) in einem Playoff-Match.

Das Spiel mit den Emotionen: Misini im WM-Spiel gegen Norwegen und als GC-Coach (r.) in einem Playoff-Match.

Eines Tages, ich war auf einem Sportplatz und schaute einem Tennisspiel zu, kam ich mit einem anderen Jugendlichen ins Gespräch. Eine Zufallsbegegnung, die meinen Weg veränderte. Der UHC Sharks Biel brauche noch einen, der ins Tor steht, erzählte er. Ich hatte keine Ahnung, doch eben – Lust auf das Aussergewöhnliche. Irgendwann merkten meine Mitspieler, dass ich als Feldspieler besser taugte. Die erste Lizenz war gelöst, die Liebe zum Unihockey entflammt. Anfang der 90er-Jahre war das. Bald wechselte ich von den Sharks, damals 4. Ligist im Kleinfeld, direkt in die NLB zum UHC Ipsach. Unihockey war noch klein und liess grosse Sprünge zu.

“Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ich heute vom Unihockey leben kann. ”

In dieser Welt fühlte ich mich sofort zuhause. Ich fand Freunde mit ähnlichen Interessen und ähnlicher Weltanschauung, wir teilten die Freude an diesem Spiel, auf recht hohem Niveau, ohne dafür gleich unsere gesamte Freizeit opfern zu müssen, ohne an Geld oder die grosse Sportlerkarriere denken zu müssen, denn Unihockey blieb Hobby, konnte nur Hobby bleiben, unschuldig und schnell, daneben konnte das Leben weitergehen mit Schule, dann Lehre, Job, Elektromonteur, es blieb Raum für Musik und Reisen und was das selbstbestimmte, freie, offene Leben in Europa sonst alles zu bieten hat. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ich heute vom Unihockey leben kann.

Über 10'000 Zuschauer*innen feiern den Sieg gegen Finnland – und die Schweiz träumt nach dem Gruppensieg vom ersten WM-Titel.

Über 10'000 Zuschauer*innen feiern den Sieg gegen Finnland – und die Schweiz träumt nach dem Gruppensieg vom ersten WM-Titel.

Der Sport, das zeigte sich schnell, wurde für mich überlebenswichtig. Unihockey war auch eine Art Flucht. Von den etwas engen Verhältnissen zuhause. Der Sport gab mir immer einen Grund, um rauszugehen, Spass zu haben. Und Unihockey im Speziellen war das abgrenzende Element; der unbewusst gesuchte Bruch mit der Tradition, der alten Heimat, auch mit den Erwartungen der Familie. Dieser Sport, für den es im Kosovo nicht einmal einen Namen gibt, bot mir alles; Flucht, Freunde, Leidenschaft. Ich schlug neue Wurzeln auf den Hallenböden der Schweiz. Meine Eltern hörten irgendwann auf, vom Fussball zu reden. Doch meine neue Welt blieb ihnen fremd, an die Spiele kamen sie fast nie.

Ich treffe in der Schweiz viele Menschen mit ähnlicher Biografie, Secondos, die in einem anderen Land ein neues Leben aufgebaut haben. Und ich staune oft, wie fest verwurzelt diese Personen in ihrer alten Heimat noch sind, wie sie unter Heimweh leiden, ihre Kultur vermissen und all ihre Ferientage dort verbringen. Ich kenne dieses Bedürfnis nicht, ich bin kein stolzer Kosovo-Albaner. Allerdings bin ich auch kein stolzer Schweizer, Nationalstolz befremdet mich. Was nicht heisst, dass ich die Schweiz nicht liebe und nicht weiss, woher ich komme. Aber wenn mich jemand nach meiner Identität fragt, sage ich: Ich fühle mich als Europäer westlicher Prägung. Und das ist ein wunderbares Gefühl. Ich könnte dieses Europa jeden Tag umarmen. Wir dürfen hier ein selbstbestimmtes Leben führen, uns als Individuen entfalten in Freiheit und Privatsphäre, und sind doch in eine Gemeinschaft eingebettet. Das entspricht mir. Ich habe hier starke Heimatgefühle entwickelt, mit der Schweiz als meinem Lebenszentrum.

“Dann weiss ich: Luan, heute musst du der Kosovo-Albaner sein. Gleichzeitig bereite ich mich immer so gut es geht vor, suche die maximale Struktur. Da bin ich dann eher der ruhige Schweizer. ”

Der Kosovo hat lange gebraucht, um wieder einigermassen auf die Beine zu kommen, die Leute kämpfen tagtäglich, das gefällt mir. Diese Resilienz ist schon eindrücklich. Natürlich trage ich Teile dieser Kosovo-DNA weiter in mir. Wenn ich während eines Spiels in den Modus Überlebenskampf rutsche, dann hellt sich in meinem Kopf alles auf und ich weiss genau, was zu tun ist. Dann kann ich leidenschaftlich improvisieren. Umso hektischer ich wirke, umso klarer bin ich im Kopf. Das ist ein geiles Gefühl und gibt mir extrem viel Energie. In diesen Modus gerate ich zum Beispiel, wenn unerwartete Situationen eintreffen oder wenn ich wenig Zeit hatte, mich auf ein Spiel vorzubereiten. Dann weiss ich: Luan, heute musst du der Kosovo-Albaner sein. Gleichzeitig bereite ich mich immer so gut es geht vor, suche die maximale Struktur. Da bin ich dann eher der ruhige Schweizer.

“Diese WM hat schon eine enorme Bedeutung für mich”

Als Coach kannst du gut mit diesem emotionalen Switch arbeiten. Ich weiss, dass ich manchmal auch provoziert habe mit meiner emotionalen Art auf dem Feld, und selten wurde ich dann als «Jugo» beschimpft, von Gegenspielern oder Fans. Doch rassistische Angriffe waren die extreme Ausnahme, ich fühlte mich kaum je diskriminiert, allgemein nicht und in der Unihockeyszene schon gar nicht. Unihockey, dieser Schweizer Nationalsport, ist nicht nur Passion, er gehört mittlerweile zu meiner Identität. Und hat damit auch meine Identität als Schweizer gestärkt.

Bei Floorball Köniz, wir waren mittlerweile in die NLA aufgestiegen, arbeiteten wir mit einem Sportpsychologen, Christian Müri. Eines Tages verteilte er Zettel im Team und bat jeden Spieler, sein Ziel darauf zu notieren. Dieser Zettel begleitet mich seit bald 20 Jahren, ich habe ihn immer noch bei mir zuhause in Zürich, wo jetzt die Weltmeisterschaft stattfindet. Ein Wort steht darauf geschrieben: Weltmeister.

Misini – hier zwischen  Tobias Heller und Luca Graf – hat seit bald 20 Jahren ein klares Ziel vor Augen.

Misini – hier zwischen Tobias Heller und Luca Graf – hat seit bald 20 Jahren ein klares Ziel vor Augen.

Unihockey ist mein Zuhause, ebenso wie Zürich, die Schweiz, Europa. Diese WM hat schon eine enorme Bedeutung für mich. Im Gruppenspiel gegen Finnland spielten wir vor über 10'000 Zuschauerinnen und Zuschauern, eine sehr intensive Erfahrung. Und der Sieg hoffentlich ein gutes Omen. Hier Weltmeister im Unihockey zu werden? Ich könnte meine Emotionen vermutlich nicht kontrollieren.»

Aufgezeichnet von Pierre Hagmann, Team Medien und Information Swiss Olympic

Erfolgscoach bei GC, seit 2015 in der Nati

Luan Misini (45) lebt mit seiner Familie in Zürich. Seit 10 Jahren und noch bis Ende Saison ist er Cheftrainer von GC Unihockey, das er zur erfolgreichsten Ära der Clubgeschichte mit zwei Schweizermeistertiteln (2016, 2022) und drei Cupsiegen (2014,2017,2022) führte. Zudem wurde er von swiss unihockey dreimal als Trainer des Jahres ausgezeichnet. Als Spieler war Misini unter anderem bei Floorball Köniz in der NLA tätig, bevor er seine Trainerkarriere beim UHC Biel-Seeland startete. Seit 2015 ist Misini auch Assistenztrainer der Schweizer A-Nationalmannschaft der Männer, mit der er diese Woche an der Weltmeisterschaft in Zürich und Winterthur im Einsatz steht. Turnierfavorit ist Schweden, das 9 von bislang 13 Weltmeisterschaften gewonnen hat. Die anderen vier Titel gingen an Finnland. Nun träumt die Schweiz an der Heim-WM vom erstmaligen Titel.



 

Unihockey WM 2022
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Im Blog «Ungefiltert» erzählen Athletinnen und Athleten in ihren eigenen Worten aus ihrem Leben. Sie sprechen über Siege und Niederlagen, über schöne und über schwierige Momente, über das Hinfallen und über das Aufstehen. Die Athletinnen und Athleten bilden das vielfältige Gesicht des Schweizer Sports ab und zeigen, was den Sport so wertvoll macht.