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31.
August
2023
(Keystone-SDA)

Kopfüber nach Olympia

Michelle Heimberg, 23, ist die erfolgreichste Schweizer Wasserspringerin. Seit sie acht ist, träumt sie von Olympischen Spielen. Es ist ein Traum, der stärker ist als alle Widerstände, und Widerstände gab es einige. Ihre persönliche Geschichte in fünf Kapiteln über kaputte Knie und blaue Lippen, innere Stimmen und letzte Chancen – etwa jene, sich für Paris 2024 zu qualifizieren.

«Nach einem Salto brach bei der Landung meine linke Kniescheibe. Es knallte laut und schmerzte sehr. Monatelang dauerte die Rehabilitation mit spezieller Schiene, da war ich elf und seit sieben Jahren im Kunstturnen. Schon damals hatte ich diesen grossen Traum: Olympische Spiele. 2008, im Alter von acht, hatte ich zusammen mit meinen sportverrückten Eltern am Fernseher zuhause im Fislisbach im Aargau mitverfolgt, wie die US-Turnerinnen Shawn Johnson und Nastia Liukin an den Olympischen Sommerspielen in Peking alles dominierten mit ihren federleichten Figuren und Sprüngen auf dieser Weltbühne. Da spürte ich ganz stark: Dorthin will ich auch. Und wenn ich mir mal etwas in den Kopf gesetzt habe… An jenem Abend brannten sich die olympischen Ringe in meinem Herzen ein, und sie begleiten mich bis heute täglich. Auf meiner Halskette ebenso wie in meinen Zielen. Ihnen ordne ich alles unter.

Kapitel 1: Das medizinische Rätsel und die Google-Suche

Als die linke Kniescheibe geheilt war und ich endlich wieder Kunstturnen konnte, brach die rechte Kniescheibe. Es geschah in der Luft, bei einem gewöhnlichen Spagatsprung. Wieder dieser Knall, wieder dieser Schmerz, ich wusste sofort, was war. Die Ärzte standen vor einem Rätsel; dass eine Kniescheibe ohne Fremdeinwirkung in so jungem Alter bricht, einfach so – das war ihnen noch nie begegnet. Einen vergleichbaren Fall gab es nicht.

Wieder begann die Rehabilitation, nun mit Gips und vor allem ganz anderen Aussichten: Meine Kunstturn-Karriere war vorbei, bevor sie angefangen hatte. Die Gefahr, dass die Kniescheiben beim Kunstturnen wieder brechen, war gross. Und dann würden Operationen unumgänglich – das wollte ich nicht riskieren mit 12.

Seit ich vier war, hatte ich jede freie Minute dem Kunstturnen gewidmet. Vormittag Schule, Nachmittag Training. Kunstturnen war mein Leben, mein Traum. Dieser Traum zerbrach mit der linken Kniescheibe. Der seelische Schmerz war mindestens so gross wie der physische. Doch der Traum von Olympia, das merkte ich schnell, war stärker als der Frust über das Ende meine Kunstturn-Träume.

“Dieser Traum zerbrach mit der linken Kniescheibe. ”

Also machte ich mich, noch im Gips, auf die Suche. Nach anderen Wegen, um meinen Olympia-Traum zu erfüllen. Ich googelte zusammen mit meiner Mutter nach Sportarten, die zwei Kriterien erfüllen mussten. Das Arzt-Kriterium: knieschonend. Mein eigenes Kriterium: olympisch. Da gab es keinen Spielraum, denn das hatte ich mir fest in den Kopf gesetzt: Ich will an die Olympischen Spiele. Dieser magische Ort mit den Besten der Besten, die grösste und schönste aller Bühnen, auf die sich die Augen der Welt richten, ein grosses Sportfest.

Leichtathletik und Mountainbike hätten mich gereizt, erfüllten das Knie-Kriterium aber nicht recht. Rudern wurde zum Thema. Als ich bei einem Schnupperkurs erstmals allein auf einem Boot unterwegs war, wurde mir klar: Ich finds mega langweilig, viel zu monoton. Es ist die Vielfalt der Bewegungen, die ich am Kunstturnen so geliebt hatte.

Und dann entdeckte ich auf einer Liste: Wasserspringen. Knieschonend, olympisch und einige Ähnlichkeiten mit dem Kunstturnen – it’s a match!

«Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe…»: Michelle Heimberg und die fünf Ringe. (Keystone-SDA)

«Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe…»: Michelle Heimberg und die fünf Ringe. (Keystone-SDA)

Kapitel 2: Die hartnäckige Mutter und die Angst vor dem Köpfler

Beim Schwimmclub Aarefisch in Aarau sagten sie zuerst, ich brauche gar nicht zu kommen, mit 12 sei ich zu alt, um als Wasserspringerin zu starten. Doch meine Mutter, unter anderem ausgebildete Sportmentaltrainerin, blieb hartnäckig und verschaffte mir die Gelegenheit für ein Schnuppertraining. Nach 3 Wochen war ich bereits im regionalen Kader.

Ich merkte schnell: Die Jahre im Kunstturnen waren nicht vergebens, ich konnte viel mitnehmen aus dem intensiven Training. Die Orientierung in der Luft etwa, die Sprungkraft, die Körperspannung und Beweglichkeit. Diese Erkenntnis half mir mental mega in dieser Übergangszeit nach meinen Knieverletzungen.

Überhaupt verlief der Wechsel recht reibungsfrei. Aus der pragmatischen Suche nach einem geeigneten Ersatz wurde schnell Faszination für das Wasserspringen. Was als Mittel zum Zweck begann, ist nun Leidenschaft. Zum Glück, denn ohne geht’s nicht – allein der Traum von Olympia reicht nicht, um Olympia zu schaffen, und mag der Traum noch so gross sein. Du musst so viel investieren für dieses Ziel.

“Was als Mittel zum Zweck begann, ist nun Leidenschaft. ”

Zwei Probleme ergaben sich allerdings, als plötzlich das Sprungbrett in der Schwimmhalle mein neues Habitat war. Erstens: Ich fror ständig. Am Anfang war das recht heavy, in jedem Training hatte ich blaue Lippen und kalt am ganzen Körper. Ein Gfrörli bin ich noch heute, aber man gewöhnt sich an die Kälte.

Zweitens: Im Kunstturnen wird dir eingetrichtert, nie, nie, nie, unter keinen Umständen auf dem Kopf zu landen. Im Wasserspringen gilt das Gegenteil. Es brauchte 1,5 Jahre und sehr viel Überwindung, bis ich den Rückwärtssalto mit 1,5 Drehungen angstfrei springen konnte. Mein Trainer ist einige Male fast verzweifelt.

Als ehemalige Kunstturnerin mit dem Kopf voran landen? Eine grosse Umstellung. (Keystone-SDA)

Als ehemalige Kunstturnerin mit dem Kopf voran landen? Eine grosse Umstellung. (Keystone-SDA)

Dieser Kampf gegen meine eigenen Intuitionen und Ängste faszinierte mich gleichzeitig. So bin ich – wenn ich etwas wirklich will, dann nehme ich alle Hürden auf dem Weg aufgeregt als interessante Herausforderung an. Schritt für Schritt zum grossen Ziel. Im Wasserspringen sind es sehr kleine Schritte. Pro Hallentraining sind es bis zu 50 Sprünge. Du feilst Stunde um Stunde an jedem Detail, damit am Tag X in deinen vielleicht 10 Sekunden Einsatz – an Wettkämpfen hast du maximal 5 Sprünge – alles zusammenpasst.

Mir hilft dabei sehr, dass ich ein gutes Gespür und einige Erfahrung dafür habe, was auf diesem Weg gesund ist, was nicht, und wo die Grenzen liegen. Im Kunstturnen wurde ich früh mit Methoden konfrontiert, die aus heutiger Sicht ungesund sind. Meine Eltern haben das schon damals erkannt und mich unterstützt, Grenzen zu setzen, selbst wenn das nicht gut angekommen ist. So durfte ich schon als kleines Mädchen diese wichtige Lektion lernen: Ich muss mir nicht gefallen lassen, was mir nicht gut tut. Ich muss nicht den anderen gefallen, sondern meinen Werten und meinen Zielen treu bleiben.

Klare Ziele, klare Werte: Michelle Heimberg in ihrem Element. (Keystone-SDA)

Klare Ziele, klare Werte: Michelle Heimberg in ihrem Element. (Keystone-SDA)

Kapitel 3: Die Notbremse und der Gegenwind

Wie damals, 2021, ich war inzwischen 21 und so nah am Ziel wie nie. Kurz vor der letzten Qualifikations-Möglichkeit für die Olympischen Sommerspiele in Tokio realisierte ich, dass ich sofort etwas ändern musste, damit sich mein Traum von Olympia erfüllen konnte. Mein Club war in Genf, dorthin war ich mit 16 gewechselt, um den Weg nach Olympia gezielt weiterzugehen. Dann hatte die Pandemie zugeschlagen, die Hallenbäder wurden geschlossen. Ich beschloss, im Oktober 2020 die Spitzensport-RS in Magglingen zu starten. Als sich dann die Covid-Lage anfangs 2021 etwas normalisierte und ich nach Genf zurückkehren sollte, sträubte sich alles in mir. Ich habe in Genf sehr viel gelernt, spürte aber, dass ich meine Trainerin und den Club wechseln musste, wenn ich die Qualifikation schaffen wollte. Es passte nicht mehr so gut wie zu Beginn zwischen ihr und mir, ich fühlte mich nicht mehr wohl. Meine innere Stimme war deutlich: Entweder ich finde ein neues Trainingsumfeld und eine Trainerin, einen Trainer, mit der oder dem es stimmt – oder ich höre auf.

“Ohne uns, so die Botschaft, wirst du keinen Erfolg mehr haben.”

Das Unverständnis in Genf war gross. Das geht doch nicht, hiess es. Das läuft so nicht, schon gar nicht so kurz vor dem Ziel. Das tut man nicht.

Ich tat es.

Ein Monat vor dem Quali-Wettkampf für Tokyo 2021 verliess ich Genf und fand eine neue Trainerin in Zürich, in die ich schnell Vertrauen fasste. Im engsten Umfeld spürte ich viel Unterstützung. In der kleinen Wassersportszene hat mein Entscheid aber viele irritiert, das kriege ich bis heute zu spüren. Von einigen Direktinvolvierten bekam ich Dinge zu hören, die schmerzhaft und belastend waren. Ohne uns, so die Botschaft, wirst du keinen Erfolg mehr haben.

Was folgte, war die Bestätigung, dass Erfolg hat, wer auf die eigenen Gefühle hört und nicht auf irgendwelche Konventionen und ungeschriebene Gesetze und persönliche Befindlichkeiten von anderen.

Beatrix Szakadati Rois, die aktuelle Trainerin von Michelle Heimberg. (Keystone-SDA)

Beatrix Szakadati Rois, die aktuelle Trainerin von Michelle Heimberg. (Keystone-SDA)

Kapitel 4: Der halbe Traum und die Freude der Anderen

Der Traum Olympia gab mir die Kraft und den Mut, gegen alle Widerstände meiner inneren Stimme zu folgen – und so auch, ebendiesen Traum zu verwirklichen: Anfang Mai 2021 schaffte ich beim Wasserspring-Weltcup-Turnier in Tokio den zehnten Platz vom 3-Meter-Brett – und damit die Qualifikation für die Sommerspiele in der gleichen Stadt drei Monate später. Es war geschafft, mein Traum von Olympia würde wahr werden! Die Freude war unbeschreiblich, in einem solchen Moment fällt sehr viel Last ab. Das vielleicht schönste Gefühl aber war, die Freude der Mitmenschen zu erleben, die mich unterstützt haben auf dem Weg.

Geschafft! Ein Traum wird wahr.

Geschafft! Ein Traum wird wahr.

Wenn du seit acht von Olympia träumst und dann in Tokio auf dem Sprungbrett stehst als Olympionikin, als Teil des Swiss Olympic Teams, dann ist das schon fabelhaft. Ob es genauso war, wie ich es mir erträumt hatte?

Nun, Tokio 2021 war Corona-Olympia: Wir waren im olympischen Dorf eingesperrt, durften dieses nur für unsere Wettkämpfe verlassen. Vor Ort gab es keine Fans, kein Publikum, das Minimum an Begleitpersonen. Bei der Jugendolympiade 2018 in Buenos Aires erlebte ich den olympischen Spirit zehn Mal stärker. Das Besondere an Olympia ist ja unter anderem, dass man zusammen auch Wettkämpfe der Anderen im Swiss Olympic Team besucht, dass man sich sportartübergreifend unterstützt, Fans und Freunde aus der Heimat im House of Switzerland trifft – dass man dieses einzigartige Erlebnis teilt. All das ging nicht in Tokio.

Nur halb Olympia: Tokyo 2020 im Jahr 2021 – verschoben wegen der Pandemie. (Keystone-SDA)

Nur halb Olympia: Tokyo 2020 im Jahr 2021 – verschoben wegen der Pandemie. (Keystone-SDA)

Sportlich lief es besser als erträumt – ich konnte mich als erste Schweizer Wasserspringerin überhaupt für den Olympia-Final qualifizieren, wurde am Ende Elfte. Grenzenloser Jubel in meiner Bubble – Gratulationen aus der Schweizer Wassersportszene konnte ich hingegen an einer Hand ablesen. Natürlich wünschte ich mir, es wäre anders, aber ich habe auch dank meiner Mentaltrainerin gelernt, das nicht persönlich zu nehmen. Dass ich mich nicht schlecht fühlen muss, weil ich für mich und meine Ziele eingestanden bin.

Als erste Schweizer Wasserspringerin in einem Olympia-Final – aber nicht alle freuen sich mit. (Keystone-SDA)

Als erste Schweizer Wasserspringerin in einem Olympia-Final – aber nicht alle freuen sich mit. (Keystone-SDA)

Kapitel 5: Das Loch danach und die Traumstadt

Direkt nach Tokio fiel ich in das bekannte Post-Olympia-Loch. Du arbeitest jahrelang für ein Ziel, realisierst den Traum – und dann? Der Alltag erscheint plötzlich sinnlos. Ich sah für drei Monate kein Sprungbrett, bis ich realisierte: Tokio war nur halb Olympia. Mein Traum ist erst halb realisiert. Ich nahm Paris 2024 ins Visier und mein Elan war zurück.

“Der Alltag erscheint plötzlich sinnlos.”

Nun feile ich wieder an den Sprüngen, jeden Tag, 50 Sprünge pro Tag, vor jedem Wassertraining mache ich Trockenübungen auf dem Trampolin und Airtrack, daneben 2-3 Mal Krafttraining die Woche, 1 Mal Pilates, dazu Mentaltraining.

Üben, üben, üben, damit es beim Eintauchen weniger spritzt. (Keystone-SDA)

Üben, üben, üben, damit es beim Eintauchen weniger spritzt. (Keystone-SDA)

“Es gibt keinen Plan B in meinem Kopf, ich will nach Paris.”

Ich bin noch nicht qualifiziert für die Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris. Die erste Chance diesen Sommer an der WM in Japan konnte ich nicht nutzen. Eine Mittelohrenentzündung machte mir das Leben schwer. Zudem muss meine Eintauchphase besser werden, damit es weniger spritzt beim Eintauchen. Das werde ich üben, immer und immer wieder. Es bleibt noch eine Chance, an der WM im nächsten Februar in Doha. Vorkampf, Halbfinal, Final, maximal fünf Sprünge, zehn Sekunden werden entscheiden. Die besten 12 schaffen es in den Final – und damit auch die Qualifikation für Paris. Es ist im Grunde die gleiche Ausgangslage für mich wie damals vor Tokio: eine letzte Chance. Ich bin sehr zuversichtlich.

Es gibt keinen Plan B in meinem Kopf, ich will nach Paris. So nah, ohne Covid-Einschränkungen, meine Familie und Freunde können einfach in den Zug steigen und vor Ort mitfiebern, dieses Erlebnis mit mir teilen in dieser Traumstadt. Eine märchenhafte Vorstellung, verglichen mit Tokio. Ich träume weiter.»

Aufgezeichnet von Pierre Hagmann, Medienteam Swiss Olympic

23 Schweizermeister-Titel und knappe Kasse

Michelle Heimberg ist die aktuell erfolgreichste Schweizer Wasserspringerin. Sie wurde dieses Jahr Europameisterin in Krakau vom 1m-Brett und holte Bronze vom 3m-Brett, zudem gewann sie bislang insgesamt 23 Schweizermeistertitel. Wasserspringen gehört zum Verband Swiss Aquatics und umfasst das Kunst- und Turmspringen. Michelle Heimberg ist im Kunstspringen aktiv, das von Sprungbrettern von 1 und 3 Metern ausgeführt wird. Nur die 3m-Disziplin ist olympisch. Die Sprungrichter bewerten Anlauf, Absprung, Sprunghöhe, Ausführung, Anmut des Sprungs sowie das spritzerlose Eintauchen in das Wasser. Heimberg ist heute Mitglied beim Schwimmclub Thun, trainiert aber hauptsächlich in Zürich, wo sie an der Uni ausserdem ein Studium in Kommunikationswissenschaft und Medienforschung absolviert. Finanziell kommt sie dank Unterstützung von Stiftungen, privaten Sponsoren und Partnern knapp über die Runde. Das grosse Geld lässt sich im Wasserspringen nicht verdienen – für den 8. Rang an der WM in Japan vom 1m-Brett kassierte Heimberg beispielsweise eine Prämie von 1000.-. Erschwerend kommt dazu, dass Badkleider sehr begrenzte Sponsorenflächen bieten.

Die olympischen Ringe im Herzen – und um den Hals: Olympionikin Michelle Heimberg.

Die olympischen Ringe im Herzen – und um den Hals: Olympionikin Michelle Heimberg.

Ungefiltert – Geschichten aus dem Schweizer Sport

Offen gesagt: Im Blog «Ungefiltert» erzählen Persönlichkeiten aus dem Schweizer Sport in eigenen Worten von aussergewöhnlichen Momenten und prägenden Erfahrungen. Von Siegen und Niederlagen, im Leben und im Sport. Wir freuen uns über Inputs für gute Geschichten, gerne auch die eigene: media@swissolympic.ch

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