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Schlaflos in Paris
Wer sich den Traum von einer olympischen Medaille erfüllt, wie der Schwimmer Roman Mityukov bei den Sommerspielen in Paris 2024, erlebt extreme Glücksgefühle. Die letzten Stunden vor dem Wettkampf können hingegen ein Albtraum sein, wie er in diesem sehr persönlichen Protokoll erzählt. Eine Geschichte über Scham, ewiges Warten und Hochspannung mit Krampferscheinungen.
«1. August 2024, es ist 2 Uhr in der Nacht, und ich zähle tatsächlich Schäfchen. Ich kann nicht einschlafen. Es bleiben noch etwas mehr als 18 Stunden, bevor ich mein erstes olympisches Einzelfinale bestreite. Und zwar im 200-Meter-Rückenschwimmen, meiner Lieblingsdisziplin. Ich weiss, dass ich auf dem Papier gute Chancen auf einen Podestplatz habe, und ich kann an gar nichts anderes mehr denken. Es ist erst wenige Stunden her, dass ich das Halbfinale überstanden habe. Der Wettkampf fand um 21.50 Uhr statt, anschliessend Interviews, lockeres Ausschwimmen, Massage, Rückkehr ins olympische Dorf, Essen – auch wenn ich nicht sehr hungrig war. Gegen 1.30 Uhr ging ich ins Bett.
Schnitt. Ich sehe Bilder von mir selbst, etwas verschwommen, aber ja, das bin wirklich ich, mit einer olympischen Medaille um den Hals. Doch es ist nur ein Traum, ich war für ein paar Minuten eingenickt. Das bringt Unglück, hör auf, dir das vorzustellen! Im Bett nebenan scheint mein Teamkollege Nils Liess sehr gut zu schlafen, ich beneide ihn. Ich hätte auch ein Einzelzimmer haben können, aber ich wollte lieber ein Zimmer mit ihm teilen. Nils ist ein guter Freund, und zudem war ich vor einem wichtigen Wettkampf noch nie allein in einem Zimmer. Ich neige zum Grübeln, daher habe ich gerne jemanden an meiner Seite, mit dem ich über etwas anderes als den Wettkampf sprechen kann.
Zurück zu den Schäfchen. Ich muss schlafen. Ein Schaf, zwei, drei ... ich nicke kurz ein und schrecke wieder hoch. Und nochmal. Und wieder habe ich mich mit einer olympischen Medaille gesehen. Das ist Horror, die Zeit schleicht dahin. Vor einem Jahr wurde mir klar, dass eine olympische Medaille im Bereich des Möglichen liegt, nachdem ich bei den Weltmeisterschaften im japanischen Fukuoka den dritten Platz belegt hatte. In diesem Moment hat es Klick gemacht. Ich sagte mir: Wenn das bei der WM möglich ist, dann ist es das auch an Olympischen Spielen. Es wurde zu einem realen Ziel und seitdem denke ich dauernd daran. Bin ich davon besessen? Ich denke schon, aber diese Besessenheit motiviert mich. Tagsüber spornt sie mich an, im Training noch mehr zu geben. Abends ist sie ein positiver Gedanke vor dem Einschlafen.
Nichts tun – wortwörtlich
Nun, in der Nacht vor dem Wettkampf, gelingt mir das Einschlafen nicht. Es ist 8 Uhr morgens und wenn man alle kleinen Nickerchen summiert, dann habe ich nicht mehr als zwei, drei Stunden geschlafen. Aber es hat keinen Zweck, auf meinen Wecker zu warten, den ich auf 10 Uhr gestellt hatte. Ich stehe auf und gehe zum Frühstück – ganz in Ruhe. Ich hatte mich ohnehin entschieden, an diesem Vormittag nicht zu trainieren. Ich habe noch zwölf Stunden bis zum Final, jede Minute, die ich bis dahin rumbringe, wird schon ein kleiner Sieg sein.
Nach dem Frühstück ist mein Plan klar: ruhig bleiben, regenerieren – und Zeit totschlagen. Olympische Spiele, das sind wenige Minuten Wettkampf auf höchstem Niveau, aber das sind vor allem auch viele Stunden des Wartens. Man muss lernen, das mental zu bewältigen.
Bei der Regeneration steht für mich Folgendes auf dem Programm: Eisbad, Kompressionsstiefel, Elektroden, um die Muskulatur zu lockern. Ich dusche und rasiere mich – jedes Hundertstel, das ich gewinne, kann den entscheidenden Unterschied ausmachen. Dann stehe ich weitere 30 Minuten unter der Dusche und tue nichts – im wahrsten Sinne des Wortes.
Meine Nacht war schrecklich. Mein Tag ist es auch. Er zieht sich lang hin, wirklich laaaang. Ich sehe mir im Fernsehen die Qualifikationen im Schwimmen an und andere Sportarten. Dann schaue ich mir Serien an. Und ich versuche noch einmal, etwas zu schlafen. Es gelingt mir nicht. Ich schreibe meinem Trainer Clément Bailly. Ich erzähle ihm von meiner Langeweile und meinen Schlafproblemen. Er versucht, mich so gut wie möglich zu beruhigen und mich zu motivieren.
Gut. Ich muss immer noch ein paar Stunden rumkriegen, bevor der Bus abfährt. Ich schaue mir ein paar Sachen im Internet an. Aber Social Media ist tabu. Seit 2023 verzichte ich vor und während der Wettkämpfe darauf. Das hilft, mich etwas vor dem Druck zu schützen. Zum Glück gibt es die Teamkameraden: Ich unterhalte mich mit ihnen. Normalerweise spielen wir viel zusammen – Videospiele, Kartenspiele oder Ähnliches. Wir sind alle sehr ehrgeizig, auch beim Spielen, und das bringt uns auf andere Gedanken. Doch nun ist nicht die Zeit für Spiele.
Tränen im Bus
17 Uhr. Noch etwas mehr als drei Stunden bis zum grossen Moment. Endlich steige ich in den Bus Richtung La Défense, zusammen mit meinem Trainer und mit Nils. Wir brauchen 40 Minuten zur Wettkampfstätte. Ich stecke mir die Kopfhörer in die Ohren und mache Musik an. Dieser Song – Too Sweet X Rivers – lässt mich an all die harte Arbeit denken, die ich geleistet habe, um diesen Moment zu erreichen. Für mich ist das ein ganz besonderer Moment, der starke Emotionen auslöst. Diese Busfahrt fühlt sich gerade an wie das letzte Stück eines weiten, weiten Wegs ans Ziel meiner Träume.
Die Musik lässt mich an meine Lieben denken: Meine Eltern werden da sein, meine Freunde, und all die anderen werden mich im Fernsehen sehen. Natürlich schwimme ich in erster Linie für mich selbst – weil ich es liebe. Aber ich habe Angst, sie zu enttäuschen, denn ich habe so viel Unterstützung von ihnen erfahren. Ich weiss genau, dass sie mir, sollte ich als Vierter – oder auch als Letzter – ins Ziel kommen, sagen würden: «Wir sind sehr stolz auf dich, du hast alles gegeben.» Aber so einfach ist das für mich nicht. Ich empfinde es auch als meine Pflicht, etwas mit nach Hause zu nehmen, alle in meinem Umfeld zu belohnen und zu beweisen, dass sich all die harte Arbeit gelohnt hat.
Ich würde mich schämen, wenn ich mit leeren Händen heimkehren würde. Ich weiss, dass sich dieser Gedanke ein wenig seltsam oder traurig anhören mag, weil viele das nicht verstehen, aber es ist einfach stärker als ich, ich bin Perfektionist mit grossem Wettkampfgeist. Jetzt ist Zeit, mir diese olympische Medaille zu holen. Mir steigen Tränen in die Augen.
Der Höhepunkt der Nervosität – jetzt ist er da
Wir kommen in der Schwimmhalle an. Mein Körper fühlt sich extrem schwer und müde an, ich habe überall Muskelkater, so als hätte ich eine harte Trainingswoche hinter mir – was nicht der Fall ist. Gestern habe ich nach dem Halbfinale sogar einen beginnenden Krampf gespürt, obwohl mir das sonst nie passiert. Beim Gedanken daran überfällt mich kurz die Panik: Was, wenn ich im Final einen Krampf bekomme? Dann kann ich nichts mehr kontrollieren, das wäre das Ende.
Ich bin wirklich nicht in der besten Verfassung. An der WM vor einem Jahr fühlte ich mich so leicht, und jetzt das. Ich spreche mit meinem Trainer darüber: Er versucht wieder, mich zu beruhigen: Es liege sicher an der Anspannung. Ich spüre sie bis in die Muskeln.
Ich wärme mich gründlich auf, lasse mir Zeit: Mobilisierung der Gelenke, Sit-ups, Sprünge, Stretching, ich aktiviere meinen Körper etwa 40 Minuten lang. Dann springe ich ins Wasser, 1500 Meter hin und her, in verschiedenen Intensitäten. Doch ich spüre den Muskelkater immer noch, als ich mich auf den Weg zum Call Room mache, jenem Raum, in dem wir uns kurz vor dem Rennen einfinden. Ich mache weiterhin Dehnübungen und versuche, die Schmerzen aus meinem Körper zu bekommen. Mein Trainer begleitet mich und wirft mir wie immer einige letzte aufmunternde Worte zu: Los, hol sie dir!
Noch 20 Minuten. Ich betrete den ersten Call Room, wo meine Akkreditierung und meine Kleidung kontrolliert werden. Ich sage mir immer wieder: Ich weiss, was ich tun muss, ich habe mein ganzes Leben lang sehr gut und sehr hart dafür trainiert, warum also sollte es heute nicht klappen? Ausserdem kenne ich die Zeiten meiner Gegner und einige Favoriten sind ausgeschieden. Ich weiss, dass ich unter den Besten ins Ziel kommen kann, ich kann es schaffen.
Wir kommen in den zweiten und letzten Call Room. Das nächste Rennen ist unseres. Die Nervosität steigt weiter, der Moment ist gekommen. Der Druck ist so gross, dass ich das Gefühl habe, dass mich jemand hinunterdrückt. Ich schaue zu den anderen Athleten. Auch sie sind sehr angespannt. Mich beruhigt es immer, wenn ich sehe, dass alle in der gleichen Situation sind. Ich habe die Kopfhörer in den Ohren, aber ich höre trotzdem die Musik von draussen, dann Stille und dann den Sprecher. Wow, jetzt ist es so weit.
Jetzt kannst du dein Leben leben
Ich bin der vorletzte Finalteilnehmer, der aufgerufen wird. Die anderen Finalisten sehe ich einen nach dem anderen rausgehen. Dann höre ich meinen Namen und gehe auf das Becken zu. Der Lärm des Publikums in der Défense Arena ist beeindruckend, das habe ich auch schon bei den anderen Abendsessions bemerkt. Aber in diesem Moment höre ich nichts mehr, ich sehe nichts mehr, ich vergesse alles, ich bin ganz und gar auf das Rennen fokussiert. Und meine Noise-Cancelling-Kopfhörer helfen mir, das auch zu bleiben.
Ich ziehe meine Jacke aus, die ich trage, um nach dem Aufwärmen nicht wieder auszukühlen. Ich benetze meinen Körper ein wenig und steige dann ins Wasser, um mich mit dem Gesicht zu meinem Startblock zu positionieren. Jetzt ist es endlich so weit. Nach den langen Stunden des Wartens entlädt sich ganz der ganze Druck, der auf mir lastete. Jetzt liegt es in meinen Händen.
20.38 Uhr. Das Startsignal ertönt und ich springe wie meine sieben Konkurrenten aus der Startposition nach hinten. 1 Minute, 54 Sekunden und 85 Hundertstel später schlage ich am Beckenrand an. Da ich in Rückenlage ankomme, kann ich sofort das Ergebnis auf der Anzeigetafel sehen. Neben meinem Namen sehe ich eine 2. Ich nehme meine Schwimmbrille ab. Nein, es ist eine 3 – Bronze! Ich habe eine olympische Medaille!
Was darauf folgte, wisst ihr. Ich habe so oft darüber gesprochen, dass es mir schwerfällt, die Gefühle zu beschreiben, die ich dabei empfunden habe. Das liegt vielleicht auch daran, dass sie unbeschreiblich sind. Jetzt höre ich das Publikum und sehe Schweizer Fahnen. Diese Gefühle sind so besonders, so selten, ich muss sie geniessen. Es ist einfach uuunglaublich. Ich denke an meine Familie, meine Freunde, mein ganzes Umfeld, und bin extrem erleichtert. Meine ganze harte Arbeit hat sich ausgezahlt. Ich sage mir: Jetzt kannst du dein Leben leben.
Epilog: Medaille oder Depression?
Am Tag nach dem Rennen sagte ich in einem Interview bei RTS: «Wenn ich es nicht auf das Podest geschafft hätte, wäre ich wohl in eine Depression verfallen.» Ich möchte diese Aussage in einen etwas grösseren Kontext stellen, um zu vermeiden, dass meine Worte und dieser Text missverstanden werden. Ja, die Stunden vor dem Final waren für mich sehr schwer zu bewältigen – es war die Hölle. Man darf aber nicht vergessen, dass dies ein aussergewöhnlicher Moment in meiner Karriere war: Man nimmt nicht jeden Tag an einem olympischen Final teil. Die Spiele finden nur alle vier Jahre statt, und jeder spürt den Druck. Die letzten Stunden vor dem Final, die ich oben beschrieben habe, stellen nur einen verschwindend kleinen Teil des Weges dar, der sich über Jahre hinzog und den ich unglaublich gern gegangen bin.
Ich werde niemals genau wissen, wie ich reagiert hätte, wenn ich Vierter geworden wäre oder weiter hinten gelandet wäre. Ich wäre bestimmt sehr traurig und total enttäuscht gewesen, da ich davon überzeugt war, es aufs Podest schaffen zu können. Was ich aber mit Sicherheit weiss: Ich liebe das Schwimmen, meinen Sport, meinen Alltag, zu trainieren, mit meinen Teamkollegen und meinem Umfeld zusammen sein. Ich habe es auch sehr genossen, bei diesen Olympischen Spielen dabei zu sein. Auch wenn ich gegen Ende einen enormen Druck verspürt habe, war es das auf jeden Fall wert. Und mir macht es unglaublichen Spass, weiterhin hart zu arbeiten.
Am Horizont erscheint schon Los Angeles ...»
Aufgezeichnet von Fabio Gramegna, Medienteam Swiss Olympic
Ungefiltert – Geschichten aus dem Schweizer Sport
Offen gesagt: Im Blog «Ungefiltert» erzählen Persönlichkeiten aus dem Schweizer Sport in eigenen Worten von aussergewöhnlichen Momenten und prägenden Erfahrungen. Von Siegen und Niederlagen, im Leben und im Sport. Wir freuen uns über Inputs für gute Geschichten, gerne auch die eigene: media@swissolympic.ch