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Fern der Berge, nah am Gipfel
Seit September 2019 lebt, trainiert und studiert der Walliser Ringer Tanguy Darbellay (21) in Minsk, der Hauptstadt von Belarus. Nach einem etwas komplizierten Start findet er unterdessen ideale Bedingungen vor, um in seinem Sport weiterzukommen und gleichzeitig zu studieren.
Als ich meinen Eltern im Frühling 2019 eröffne, dass ich ab Herbst für einige Zeit in Belarus leben will, schauen sie mich mit grossen Augen an. «Aber was wirst du da machen, gibt es da irgendetwas Interessantes?», fragt mich mein Vater mit skeptischer Miene. Es ist wahr, die wenigen Neuigkeiten, die man aus dem Land von Präsident Lukaschenko hört, sind selten positiv und nicht wirklich eine Werbung für das Land.
Mein Traum von Belarus fängt vor einigen Jahren mit einem weissrussischen Ring-Trainer an. Mit ihm trainiere ich in Martigny, und er lädt mich eines Tages ein, an einem Trainingscamp in seiner Heimat teilzunehmen. Drei weitere Trainingslager folgen, und ich lerne zahlreiche Trainer und Ringer aus Belarus kennen.
Anfang 2019 fälle ich den Entscheid, nach Belarus zu ziehen. Es gibt drei Hauptgründe: Sport, Studium, Finanzen. Belarus gehört im Ringsport zu den besten Ländern Europas, ich bekomme die Möglichkeit, an einer guten Universität zu studieren und Russisch zu lernen, und Belarus ist weniger teuer und zudem näher an der Schweiz als Russland.
Bei meiner Ankunft in Minsk, im September 2019, bin ich zuerst ein bisschen ernüchtert. Ich finde mich in einem riesigen Studentenwohnheim wieder, isoliert und sehr weit vom Stadtzentrum entfernt. Um morgens für mein Studium der internationalen Beziehungen zur Universität zu kommen, brauche ich rund eineinhalb Stunden. Nach den Vorlesungen verbringe ich wieder mehrere Stunden in öffentlichen Verkehrsmitteln, um zu meinem Trainingsort zu kommen. Wenn ich spätabends in mein Zimmer zurückkehre, bin ich nur noch erschöpft.
Erholung ist aber nicht angesagt. Das Zimmer teile ich mit drei weiteren Personen. Immer macht irgendjemand Lärm oder steht sehr früh auf. Für einen Sportler ist es unter solchen Bedingungen nicht möglich, zu regenerieren. Aufgrund der immer grösseren Übermüdung verletze ich mich am Knie. Aber ich darf in diesem Moment auf keinen Fall aufhören zu trainieren, weil ich für die Saison der Schweizer Nationalliga A fit sein will, deren Start bevorsteht.
Von Oktober bis November 2019 kehre ich regelmässig in die Schweiz zurück, um für mein Team aus Schattdorf im Kanton Uri anzutreten. In der Regel reise ich am Freitagnachmittag aus Minsk ab. Nach der Landung in Genf nehme ich den Zug nach Martigny. Dort geht es zum Laufen und in die Sauna, um Gewicht zu verlieren. Am Samstag sitze ich drei Stunden mit einem Teamkollegen im Auto und fahre nach Schattdorf. Vor ein paar Tausend begeisterten Zuschauern bestreite ich meine Ringkämpfe – unser Team ist der Stolz des Ortes!
Nach den Kämpfen fahre ich direkt ins Wallis zurück, am Sonntagmorgen um 2 oder 3 Uhr komme ich wieder in Martigny an. Manchmal noch am Sonntag, spätestens jedoch am Montag reise ich wieder nach Belarus.
Sehr rasch wird mir klar, dass mich dieses Hin und Her viel Zeit und Energie kostet. Auch wegen der Bürokratie: Als ich das erste Mal nach Minsk zurückkomme, teilen mir die Behörden mit, ich sei ausgereist, ohne meine temporäre Aufenthaltsgenehmigung validiert zu haben. Als Folge muss ich ein neues Visum besorgen und mich neu bei der lokalen Polizei registrieren lassen. Dieses Spiel wiederholt sich bei jeder meiner sechs oder sieben Hin- und Rückreisen und kostet mich stets einige Stunden. Die Klischees über die überbordende Bürokratie in den ehemaligen Sowjetstaaten sind nicht erfunden...
Bevor es mir schliesslich gelingt, mein Studentenvisum für Elitesportler endgültig validieren zu lassen, verbringe ich verteilt über zwei Tage rund zwanzig Stunden in den Büros der Polizei, bis ich den richtigen Ansprechpartner finde. Glücklicherweise verlassen mich meine Ruhe und meine schweizerische Kompromissfähigkeit nie.
In dieser Phase habe ich zwischen Studium, Sport und administrativen Problemen keine Sekunde Zeit für mich selbst. Glücklicherweise finde ich nach ungefähr einem Monat eine ruhige Wohnung in der Innenstadt, die viel näher an der Universität und meinen Trainingsstätten liegt. Die Reisen zwischen der Schweiz und Belarus sind auch so noch sehr anstrengend, aber zumindest die Situation in Minsk wird dadurch viel einfacher. Ich gewöhne mich ein, erkunde die Umgebung und treffe viele nette Menschen.
Mir fällt nun auf, welche wunderbaren, zwischenmenschlichen Werte die Belarussen pflegen und insbesondere, wie solidarisch sie sind. Die Leute sind immer bereit, mir zu helfen. Sei es bei meinem Visum, der Wohnung oder anderen Dingen.
Ich knüpfe viele Freundschaften. Es reicht, jemanden im Treppenhaus meines Wohnhauses zu treffen und ein kurzes Gespräch zu führen, schon werde ich zum Essen eingeladen. Eines Tages feiere ich den Geburtstag meines Nachbarn mit all seinen Freunden. Ein grosser Teil des Abends besteht aus Karaokesingen - Hits aus der Sowjetära... Obwohl ich kein einziges Lied kenne, ist es ein denkwürdiger Abend.
Hilfreich für meine Integration in Minsk ist auch die kleine französischsprachige Gemeinschaft - und die Bekanntschaft zu einer Belarussin. Sie und ich werden ein Paar, und an Neujahr nimmt sie mich mit zu ihrer Familie in ein abgelegenes Dorf, ungefähr 200 km von Minsk entfernt. Als wir in dem kleinen Holzhaus ankommen, fühle ich mich an ein Festbankett im Mittelalter versetzt.
Der Tisch biegt sich unter zahlreichen herrlichen Speisen, darunter Kaviar, verschiedene Salate und, und, und. Während der Mahlzeit steht dann alle 15 Minuten jemand auf und spricht einen Toast aus. Auf das Glück, auf die Liebe, auf weiss ich nicht was. Und jedes Mal wird danach getrunken. Ich bekomme den Eindruck, die Nahrung ist die Begleitung zum Getränk und nicht andersherum.
Auch im Sport mache ich in dieser Zeit zahlreiche Erfahrungen. Ich trainiere an vier verschiedenen Orten. In erster Linie im nationalen Olympiazentrum, das hervorragende Bedingungen bietet. Ich gehöre keiner festen Gruppe an. So bleibe ich unabhängig und flexibel, je nach Lust und meinen momentanen Bedürfnissen. In den Monaten seit meiner Ankunft in Minsk habe ich grosse Fortschritte erzielt. Die Taktik der Belarussen unterscheidet sich deutlich von jener der Schweizer. Während die Schweizer sofort in den Angriff übergehen, beginnen Belarussen eher langsam, sie wollen dich einlullen, bevor sie den entscheidenden Angriff genau dann starten, wenn du ihn am wenigsten erwartest.
Das Training in Minsk ist sehr intensiv, intensiver als in der Schweiz. In einem Trainingslager mit der belarussischen Nationalmannschaft erlebe ich auch die härteste Einheit meiner Laufbahn.
Das Programm ist eigentlich unfassbar einfach: einen Kilometer in drei Minuten laufen und nach dreissig Sekunden Pause den Kilometer in drei Minuten zurücklaufen. Und das dreimal nacheinander, um die Anstrengungen eines Kampfs zu simulieren. Das ist genauso stupid wie furchtbar. Ich weiss nicht, wie viele meiner Teamkollegen sich vor Anstrengung übergeben, doch es sind viele. Wenn du der einzige Schweizer in einer Gruppe von 25 Weissrussen bist, erlaubst du dir aber nicht, aufzugeben, du hast kein Recht dazu!
Ich frage die einheimischen Ringer häufig um Rat. Und auch hier ist die Solidarität überwältigend. Sie akzeptieren mich voll und helfen mir gerne. Einer hat mir beispielsweise die Schlüssel für sein Haus in die Hand gedrückt, damit ich bei ihm übernachten kann, wenn ich im Olympiazentrum trainieren möchte, das bei ihm in der Nähe liegt. Einfach so!
Generell gefällt mir, wie in Belarus die Athleten respektiert und geliebt werden. In diesem Land ist es ein Privileg, Elitesportler zu sein. Man drängt die jungen Athletinnen und Athleten quasi dazu eine Profilaufbahn in Angriff nehmen. Diese bietet die Chance, den Lebensunterhalt zu verdienen, hohes gesellschaftliches Ansehen zu gewinnen und Zugang zu Vorteilen zu erhalten.
Meine Zwischenbilanz fällt aktuell mehr als positiv aus. Bereits denke ich daran, meinen Aufenthalt in Minsk um mindestens zwei Jahre zu verlängern, Fortschritte als Ringer zu erzielen und mein Studium abzuschliessen. Der Schweiz bin ich dennoch weiterhin sehr verbunden.
Ich bin stolz, Teil des Nationalkaders zu sein und sehr dankbar, an den rund 150 Trainingslagertagen im Ausland teilnehmen zu können, die vom Verband organisiert werden.
In diesem Zusammenhang möchte ich sagen, dass sich der Ringsport in unserem Land dank verschiedenen Veränderungen im Verband – etwa durch das Engagement von Nationaltrainer Nicolae Ghita, und von Monika Kurath, der Verantwortlichen Leistungssport – derzeit sehr positiv entwickelt.
Was ich in Belarus am meisten vermisse, sind die Schweizer Berge. Minsk ist für meinen Geschmack definitiv zu flach. Und die Kälte und Dunkelheit der weissrussischen Winter sind weder für die Gesundheit noch für die Stimmung ideal. Aber auf Sonne und die schönen Berge zu verzichten, um zu versuchen, in meinem Sport ganz nach oben zu kommen – dieses Opfer bringe ich gerne.
Tanguy Darbellay, 21, hat im Alter von sieben Jahren in Martigny mit dem Ringen begonnen. Er gehört zum Schweizer Nationalkader. Sein bislang grösster Erfolg ist der Titel als Schweizer Elite-Meister in der Gewichtsklasse 80 kg im Mai 2019. Im August 2020, wenige Monate nach Erscheinen dieses Textes, wurde Tanguy Darbellay in Minsk am Rande von Demonstrationen gegen Präsident Lukaschenko inhaftiert. Ein Missverständnis, wie sich herausstellte. Die belarussischen Behörden liessen ihn nach fünf Tagen frei (siehe RTS-Bericht). Trotz dieses Vorfalls beschloss er seinen Aufenthalt in Belarus wie geplant fortzusetzen.
Im Blog «Ungefiltert» erzählen Athletinnen und Athleten in ihren eigenen Worten aus ihrem Leben. Sie sprechen über Siege und Niederlagen, über schöne und über schwierige Momente, über das Hinfallen und über das Aufstehen. Die Athletinnen und Athleten bilden das vielfältige Gesicht des Schweizer Sports ab und zeigen, was den Sport so wertvoll macht.