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31.
Januar
2023

So nah und doch so fern

Andrézieux-Bouthéon statt Australian Open: Ylena In-Albon ist 23 und gehört als WTA-Nummer 131 zu den erfolgreichsten Tennis-Spielerinnen in dieser Weltsportart. Doch die Musik spielt in den Top 100 und an den Grand Slams. Woche für Woche nimmt die Walliserin Anlauf für dieses grosse Ziel – wie ist das Leben an der Schwelle zum erlauchten Kreis? Persönliche Gedanken über Mut, Geld und abgelegene Anlagen.

«Die Luft ist heiss und die Anspannung gross, Melbourne, 8. Januar 2023, ich schnuppere Grand-Slam-Luft in der 1. Qualifikationsrunde für das Australian Open. Meine Gegnerin heisst Arianne Hartono, eine Niederländerin, die Weltnummer 146. Doch mir kommt es vor, als spielte ich in erster Linie nicht gegen eine Tennisspielerin auf der anderen Platzseite, sondern gegen meine eigenen Grand-Slam-Dämonen; nah dran am Ziel, mit dieser Aussicht auf die grosse Bühne, fällt es mir schwer, zu fokussieren und die Nervosität abzulegen. Ich weiss, ich sollte angriffig spielen, aber die Hände sind zittrig. Dann kommen die Zweifel: Gehöre ich wirklich hierhin?

Nebenschauplätze: Das Australian Open 2023 endete für Ylena In-Albon, bevor es wirklich begann – sie scheiterte Anfang Januar in der Qualifikation. (zvg)

Nebenschauplätze: Das Australian Open 2023 endete für Ylena In-Albon, bevor es wirklich begann – sie scheiterte Anfang Januar in der Qualifikation. (zvg)

Ich liebe es sehr, Tennis zu spielen, und leide jetzt gleichzeitig. 1 Stunde und 24 Minuten dauert es, bis der Traum diesmal platzt. Im siebten Anlauf verliere ich zum siebten Mal in der Qualifikation eines Grand-Slam-Turniers. Viermal im Jahr träume ich von Neuen. Der Druck, es zu schaffen, steigt.

Der weniger beschwerliche und vor allem direkte Weg ins Haupttableau ist ein Platz in den ersten rund 100 der Weltrangliste.

“Die Position fühlt sich manchmal an wie in einer dicht gedrängten Warteschlange vor der Disco. ”

Das ist die Grenze, die alles ändert, deine Karriere und dein Leben: Die Top 100 im Welttennis, die magische Zahl. Wer dazugehört, spielt Grand-Slam-Tennis und damit in einer anderen Sphäre. Alle anderen kämpfen Woche um Woche, Punkt um Punkt, auf abgelegenen Anlagen um einen Platz an der Tennis-Sonne. So wie ich, aktuell die WTA-Nummer 131. Seit meiner Kindheit in Visp träume ich von diesem Ziel. 2019 habe ich die Matura abgeschlossen, seither konzentriere ich mich als Profi voll aufs Tennis. Und bewege mich nun auf der Tour schon eine Weile in dieser Region knapp hinter den Top 100.

Die Position fühlt sich manchmal an wie in einer dicht gedrängten Warteschlange vor der Disco. Alle wollen rein, aber niemand raus. Wobei ich nicht warte, sondern spiele und spiele, so viel es geht, auf der ganzen Welt. Valencia, Santa Margherita die Pula, Bari, Prag, Contrexeville, Brescia, Bellinzona, Bogota, Anapoima, Altenkirchen. Siege geben Punkte, Punkte bringen dich näher ans Ziel. Die Luft, sie ist dünn gegen oben. Doch das Ranking wird jede Woche aktualisiert. So wie du in jedem Match bei jedem Punkt und Satz eine neue Chance hast, wieder bei 0 beginnst, so kannst du auch jede Woche von Neuem deine Jagd starten. Tennis ist der Sport der vielen Chancen. Und gleichzeitig brutal. Am Ende verlieren immer alle ausser jemand.

Kampf um Aufmerksamkeit: Spielerinnen ausserhalb der Top 100 ringen stets um ihren Platz an der Sonne.

Kampf um Aufmerksamkeit: Spielerinnen ausserhalb der Top 100 ringen stets um ihren Platz an der Sonne.

Mathematisch betrachtet

Zurück in der Schweiz, im Tessin, wo ich wohne, fiebere ich wie alle anderen vor dem TV mit den Schweizerinnen und Schweizern im hochsommerlichen Australien mit. Nun hier in meiner WG in Balerna nahe Chiasso zu sitzen, am anderen, eiskalten Ende der Welt statt selber mitspielen zu können – das schmerzt natürlich auch. So nah und doch so fern.

Es gibt unendlich viele Tennisspielerinnen auf der ganzen Welt, und mir fehlen nur 31 Ränge bis in die Top 100, das klingt nach wenig. Mathematisch betrachtet ist es aber eine Menge. Gut 600 WTA-Punkte sind nötig für die Top 100. Ich stehe bei 508 Punkten. 90 Punkte, das ist die Grössenordnung eines Halbfinals auf Stufe WTA. Oder zwei Turniersiege bei mittleren ITF-Events, der zweithöchsten Stufe. Und dann musst du immer auch die Punkte vom Vorjahr verteidigen. So nah und doch so fern.

“Diese Zahl, Top 100, sie motiviert mich extrem, aber manchmal blockiert sie mich auch etwas. ”

Nun bin ich 23 und weiss, dass ich kein globales Ausnahmetalent bin, das x Grand-Slam-Turniere gewinnen wird. Aber ich weiss auch, dass ich, passend zu meiner Statur, eine Spielerin der kleinen Schritte bin. Schritt für Schritt ans Ziel. Mit meinen 1.59 Metern bin ich für eine Tennisspielerin sehr klein. Ich darf mich nicht zu weit hinter die Grundlinie drängen lassen, sonst wird das Feld riesig. Das bedeutet: Ich muss offensiv spielen. Das wiederum verlangt Mut. Mutig zu spielen beim Stand von 2:2 ist das eine – und etwas ganz anderes bei 5:5 im dritten Satz. Dann, wenn ich es am meisten bräuchte, schaffe ich es oft nicht. Ich werde nervös und spiele abwartend.

Diese Zahl, Top 100, sie motiviert mich extrem, aber manchmal blockiert sie mich auch etwas.

Meine Zweifel hindern mich in diesen Momenten daran, mein bestes Tennis zu spielen. Dann scheitere ich wieder. Gleichzeitig habe ich lustigerweise keine Zweifel, dass ich ohne diese Zweifel gut genug sein kann für die Top 100. Und deshalb bin ich jeden Tag aufs Neue motiviert, hart für mein Ziel zu arbeiten. Gerade im mentalen Bereich. Auf diesem Niveau hat jede Spielerin eine gute Vor- und Rückhand. Der Kopf wird umso wichtiger. Mit meiner Psychologin, die ich wöchentlich sehe, lerne ich den Umgang mit Druck, Nervosität und Angst. Ganz wegtrainieren kann und will ich diese Emotionen nicht, aber sie dürfen mich nicht dominieren. Ich meditiere auch. Das hilft mir, meine Gedanken zu filtern und mich besser zu konzentrieren.

Ein Aufschlagsduell gegen John Isner, ATP 42 und 2.09 cm gross, würde Ylena In-Albon, 1.59 cm, vermutlich nicht hoch gewinnen: Begegnung in Wimbledon 2022.

Ein Aufschlagsduell gegen John Isner, ATP 42 und 2.09 cm gross, würde Ylena In-Albon, 1.59 cm, vermutlich nicht hoch gewinnen: Begegnung in Wimbledon 2022.

Als mich das Glück küsste

Die Niederlage in Melbourne ist schwer zu verdauen. Ich stecke viel Hoffnung und Vorbereitung in eine solche Gelegenheit, die ganze Organisation und die lange Reise, und dann ist nach 80 Minuten alles vorbei. Aber nach zwei, drei Tagen, so ist es immer nach Niederlagen, fasse ich neue Freude und nehme mir vor, nie mehr auf diese Weise zu verlieren. Diese Herausforderungen, die das Tennis bereithält, faszinieren mich. Jeden Tag ein neues Problem lösen. Schwere Beine, geistige Müdigkeit, schlechtes Timing beim Aufschlag: Der perfekte Match gelingt dir vielleicht zwei Mal im Jahr, der Rest ist eine ewige Auseinandersetzung mit Problemen und Lösungen. Das pusht mich und bringt mich auch persönlich weiter. Auch deshalb liebe ich diesen Sport. Ich könnte den ganzen Tag Tennis spielen!

Pro Tag trainiere ich normalerweise vier bis sechs Stunden, inklusive Kraft und Kondition. Je nach Turnierkalender ist es mehr oder weniger. Viel Zeit für anderes bleibt derzeit nicht, mein Leben ist sehr aufs Tennis ausgerichtet.

“Ich habe die Magie des Grand Slams aufgesogen, und ich will mehr davon.”

128 Spielerinnen spielen an den Grand-Slam-Turnieren um den Titel. Direkt qualifiziert sind normalerweise die Top 104 der Weltrangliste. 16 weitere Plätze werden in drei Qualifikationsrunden vergeben, der Rest sind Wild Cards, die von den Turnieren vergeben werden.

Im Juni 2022, so gut klassiert wie nie, WTA-Rang 110, küsste mich das Glück: Weil einige der vor mir klassierten Spielerinnen ausfielen, stand ich plötzlich, ohne Qualifikation spielen zu müssen, im Hauptfeld von Wimbledon. 68 Minuten, solange dauerte mein Debüt und bisher einziges Grand-Slam-Spiel. Ich verlor in zwei Sätzen gegen Alison Riske aus den USA, 2:6, 4:6, doch es war eine überwältigende Erfahrung. Die ganze Ambiance, dieses Gewusel überall, riesige Anlagen, im Restaurant sitzt du plötzlich am Tisch neben Rafael Nadal, alles ist grösser und die ganze Tenniswelt schaut zu: Ich habe die Magie des Grand Slams aufgesogen, und ich will mehr davon.

Strahlende Verliererin: Ylena In-Albon nach ihrem Grand-Slam-Debüt gegen Alison Riske.

Strahlende Verliererin: Ylena In-Albon nach ihrem Grand-Slam-Debüt gegen Alison Riske.

Wenn das Preisgeld nicht reicht

Doch im Januar 2023 heisst der Alltag Andrézieux-Bouthéon statt Australian Open. Ein ITF-Turnier in der Nähe von Lyon, Kategorie W60. Mein Coach Gonzalo Vitale und ich reisen mit dem Auto an. Ich spiele die 1. Runde in der Night Session, die Stimmung ist cool, auch wenn es wenig Zuschauer hat. Ich tue mich schwer mit Indoor Hardcourt, und dann kommen mir meine Emotionen wieder in die Quere. Ich verliere in 3 Sätzen, bin wütend und aufgewühlt. Die Gespräche mit Gonzalo zurück in der Hotel-Lobby helfen. Am nächsten Morgen reisen wir zurück ins Tessin, es bleibt im Auto viel Zeit für weitere Analysen. Den Kosten für zwei Übernachtungen, die Reise und Trainerspesen stehen 400 Euro Preisgeld gegenüber. Die Bilanz dieses Trips fällt auch finanziell negativ aus.

«Tennis ist ein einsamer Sport»: Auf dem heiligen Rasen von Wimbledon.

«Tennis ist ein einsamer Sport»: Auf dem heiligen Rasen von Wimbledon.

“Man sagt, es sei schwieriger in die Top 100 zu kommen als sich darin zu behaupten. ”

Man sagt, es sei schwieriger in die Top 100 zu kommen als sich darin zu behaupten. Du spielst dann nur noch die grösseren Turniere und insgesamt weniger, die einzelnen Siege sind aber mehr Punkte wert.

Ich spiele rund 30 Turniere pro Saison. Einerseits weil ich besser spiele, je mehr ich spiele. Aber auch, weil das Teil der Strategie ist, um die Top 100 zu erreichen. Aktuell setze ich auf einen Mix von Turnieren vom etwas tieferen Level von ITF-Turnieren sowie Starts an einzelnen WTA-Turnieren. Auf Stufe ITF kann ich auch mal einen Titel gewinnen, erhalte dafür aber deutlich weniger Punkte als bei WTA-Events. Wobei ich mir nicht den Kopf über die Strategie zerbreche, wie und wo genau ich wieviele Punkte holen kann. Da kann man sich zu Tode rechnen.

In der Planung unterstützt mich mein Coach Gonzalo. Er ist aus Uruguay und im Tessin zuhause – und der Grund, dass ich derzeit auch im Tessin wohne. Flüge und Hotels buchen, Trainings mit anderen Spielerinnen organisieren, solche Aufgaben teilen wir uns auf. Schon sieben Jahre ist er mein Coach, aber auch Mitorganisator, Betreuer, Reisebegleiter und ein bisschen auch Vaterfigur. Wenn möglich, begleitet mich Gonzalo an die Turniere, in Australien ist er ebenso dabei wie in Andrézieux-Bouthéon. Manchmal, wenn er andere Verpflichtungen hat, reise ich alleine. Das kann etwas einsam werden. Ohnehin ist Tennis ein einsamer Sport. Auf dem Platz bist du auf dich alleine gestellt. Ausserhalb schaut halt jede für sich. Umso wichtiger ist mir mein privates Umfeld, meine Familie.

Gonzalo Vitale arbeitet fast Vollzeit für mich, ich bezahle ihm einen monatlichen Fixlohn. Nebst dem Reisen halte ich die Kosten tief: Ich wohne in einer WG mit zwei anderen Tennisspielerinnen aus Italien, lebe gerne bescheiden. Mit Preisgeldern allein würde es aber nicht reichen. Ich bin auf Sponsoren angewiesen, diese machen knapp die andere Hälfte meiner Einkünfte aus. Hätte ich mehr Geld, würde ich eine Managerin engagieren, die mich in der Sponsorensuche unterstützt. Zum Glück helfen beim Fundraising auch meine Eltern mit. Und Swiss Tennis hat schon immer viel Support geboten, vor allem finanziell. Die Schweizer Sporthilfe ist ebenfalls eine wichtige Sponsorin.

Auch darum ist es schwieriger, in die Top 100 zu kommen, als in diesen zu bleiben. Wenn du mal drin bist, kannst du dir ein Umfeld leisten, in dem du dich aufs Wesentliche fokussieren kannst.

Seit sieben Jahren ein eingespieltes Team: Coach Gonzalo Vitale begleitet Ylena In-Albon auf ihrem Weg nach oben.

Seit sieben Jahren ein eingespieltes Team: Coach Gonzalo Vitale begleitet Ylena In-Albon auf ihrem Weg nach oben.

The winner takes it almost all

Wer an den Grand Slams von Melbourne, Paris, Wimbledon und New York alle vier Erstrundenpartien verliert, kassiert zusammengerechnet rund eine Viertelmillion Franken. Nur für den Start, der ja durch die Klassierung in den Top 100 garantiert ist. Dazu kommen andere Turniere und vielleicht auch mal ein gewonnenes Spiel an einem Grand Slam. Und Sponsoring-Einnahmen. Wenn ich ein ITF-Turnier der Kategorie W25 für mich entscheiden kann, gewinne ich etwa 3000.-. Mein Startgeld für die Qualifikation für die Australian Open betrug 15'000 Franken. Bei dann 84 Minuten Spieldauer gibt das einen schönen Stundenlohn…

Und wenn der Schritt in die Top 100 nicht gelingt? Ich weiss nicht, ob diese Position an der Schwelle zu den Besten eine ist, in der man eine lange Karriere macht. Das hängt auch von den Sponsoren ab. Je älter du wirst, umso schwieriger wird es wohl. So weit denke ich aber nicht, weil ich den Gedanken, dass es nicht reichen wird, momentan nicht akzeptieren will. Das Durchschnittsalter der Top 100 steigt laufend, aktuell liegt es etwa bei 26. Als Martina Hingis mit 22 ein erstes Mal zurückgetreten ist, war es einiges tiefer.

“Ich kann das System nicht ändern. Aber ich kann es in die Top 100 schaffen. ”
In der Reserverolle mit den Besten unterwegs – und vielleicht bald mehr: Ylena In-Albon (unten rechts) mit Bencic, Wawrinka, Känguru & Co. am neuen Teamwettbewerb United Cup Anfang Januar in Australien.

In der Reserverolle mit den Besten unterwegs – und vielleicht bald mehr: Ylena In-Albon (unten rechts) mit Bencic, Wawrinka, Känguru & Co. am neuen Teamwettbewerb United Cup Anfang Januar in Australien.

Das System Tennis bleibt ein elitäres. The winner takes it almost all. Ein richtig komfortables Leben bietet diese Weltsportart nur den allerbesten. Den Top 100. Das führt immer wieder zu vielen Diskussionen über zu tiefe Preisgelder in den hinteren Rängen. Ich selbst beteilige mich nicht an dieser Systemkritik. Ich kann das System nicht ändern. Aber ich kann es in die Top 100 schaffen.

Mein nächstes Turnier ist in Porto. Sehr wahrscheinlich reise ich allein.

Aufgezeichnet von Pierre Hagmann, Medienteam Swiss Olympic

Ungefiltert – Geschichten aus dem Schweizer Sport

Offen gesagt: Im Blog «Ungefiltert» erzählen Persönlichkeiten aus dem Schweizer Sport in eigenen Worten von aussergewöhnlichen Momenten und prägenden Erfahrungen. Von Siegen und Niederlagen, im Leben und im Sport. Wir freuen uns über Inputs für gute Geschichten, gerne auch die eigene: media@swissolympic.ch