«Alles ist möglich, obwohl es schwierig ist»
Jenjira Stadelmann, 23, war vor sieben Jahren in Thailand nahe daran, ihre Badmintonkarriere zu beenden, um Tierärztin zu werden – jetzt ist sie die Nummer 1 der Schweiz und träumt von den Olympischen Spielen 2024 in Paris. Hier erzählt sie über die harte Anfangszeit ohne ein Wort Deutsch, und wie sie sich gegen alle Hindernisse eine neue Existenz aufgebaut hat.
«Soll ich es noch einmal versuchen mit Spitzensport oder doch nicht? Es ist 2016 und eine sehr schwierige Entscheidung für mich, ich bin noch nicht einmal 17. Eigentlich habe ich meine Badmintonkarriere bereits aufgegeben, nachdem ich viele Jahre die Nummer 1 in meinem Jahrgang in Nordthailand gewesen war. Verletzungsprobleme und riesige interne Konkurrenz machten mir aber zu schaffen.
Ich wollte mich aufs Studium konzentrieren und nur noch hobbymässig weiterspielen. In Bangkok könnte ich die beste Universität des Landes für Veterinärmedizin besuchen. Ich hatte immer sehr gute Noten gehabt und würde wohl ohne Prüfung aufgenommen werden. Und es ist mein Traum, Tierärztin zu werden, seit ich ein kleines Mädchen war.
Nun bin ich in die Schweiz gekommen, um Ferien zu machen. Ich wollte unbedingt einmal die Heimat von meinem Vater sehen, auch den Schnee. Ich hatte immer wieder gehört, die Schweiz sei das Paradies auf Erden. Mein Papi ist Schweizer, deshalb habe ich auch beide Pässe. Er lebt in der Schweiz, ich wuchs zusammen mit dem Rest der Familie in Chiang Mai im Norden Thailands auf.
Ich bin vier Wochen hier, und weil mein Papi in der letzten Woche arbeiten muss, brauche ich ein Alternativprogramm. Also googelt er und sieht, dass ich ein Probetraining in St. Gallen besuchen könnte. Das mache ich dann, unter Trainer Agung Ruhanda, einem ehemaligen Spitzenspieler aus Indonesien. Er sieht offenbar mein Potenzial und weiss wohl auch, dass ich einen Schweizer Pass habe. Wenige Tage nach dem Training kommt Hanspeter «Hampi» Kolb, der Präsident des BV St. Gallen-Appenzell, auf mich zu und macht mir ein Angebot, hierzubleiben und die Sportschule Appenzellerland in Trogen zu besuchen, obwohl er mich überhaupt noch nicht kennt. Ich denke, er vertraut Agung.
Hampi, er ist heute mein Manager und Vertrauter, sagt mir auch, ich solle es doch noch einmal mit Einzel versuchen – ich hatte seit einem Jahr nur noch Doppel gespielt, auch wegen Rückenbeschwerden. Wenn es in Thailand mit einer Doppelpartnerin nicht klappt, kann man problemlos wechseln, die Auswahl an starken Spielerinnen ist dermassen gross. In der Schweiz ist dies anders.
Eine folgenschwere Entscheidung
Wie es weitergehen sollte, muss ich innert zwei Wochen entscheiden, und ich bin nun wieder in Thailand. Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll. Eigentlich habe ich keinen Bock mehr auf Leistungssport, schliesslich habe ich meine neue Karriere schon aufgegleist, mit guten Aussichten auf meinen Traumberuf. Und in der Schweiz kann ich mich ja nicht verständigen. Mein Vater sagt aber zu mir: Du hast jetzt die Chance, in die Schweiz zu kommen, hier zu leben und deine Sportkarriere neu zu lancieren. Wenn du diese Chance nicht wahrnimmst, wird sie wohl nie mehr kommen.
Ich denke: Papi, du hast recht. Wenn ich absage, dann würde Hampi zwei Jahre später kaum mehr fragen. Und ich würde vielleicht auch nicht mehr wollen, ich wäre ja sehr weit weg vom Sport.
Für meine Mutter ist es sehr schwierig. Ich bin ein typisches Mami-Kind. Natürlich ist sie traurig, als ich gehe, sie freut sich aber auch für mich wegen meiner Sportkarriere. Sie hat mich, wie mein Papi auch, immer sehr stark im Sport unterstützt. Es war immer jemand von ihnen dabei, auch wenn ich ein Turnier in Bangkok spielte – das ist von Chiang Mai 900 Kilometer entfernt.
Die Angst, etwas Falsches zu sagen
Die ersten sechs Monate in der Schweiz sind extrem hart. Ich kenne niemanden und spreche kein Wort Deutsch. Zuhause hatten wir immer Thai geredet, auch mit meinem Vater. Und mein Vater ist auch jetzt nicht bei mir, er ist in Zürich – und ich wohne beim Indonesier Agung und seiner Familie. Das Essen ist ähnlich, das hilft ein wenig. Innerhalb der Familie reden sie Indonesisch und mit mir englisch. Ich lerne nun jeden Tag Deutsch, nehme Privatstunden. Ausserhalb der Lektionen rede ich aber kein Wort Deutsch. Auch im Training sprechen alle englisch mit mir.
Manchmal fliessen in dieser Zeit auch Tränen, auch im Deutschunterricht. Die Unterschiede zwischen Thai und Deutsch sind riesig, und oft verstehe ich gar nicht, worum es geht. Ich habe auch Heimweh. Ich vermisse meine Familie in Thailand, meine Kollegen, mein Sozialleben.
Nach sechs Monaten haben wir eine Sitzung mit Claude Heiniger, der mir im Verband und auf Clubebene viel hilft, Hampi, meinen Grosseltern, meinem Vater und meinen beiden Lehrern. Sie fragen mich: Warum redest du nach sechs Monaten noch nicht Deutsch? Du könntest es ja. Ich weiss nun zwar, wie man richtig schreibt und wie man die Wörter aussprechen muss, aber ich habe ein Problem: Ich getraue mich nicht, zu sprechen. Ich bin schüchtern und völlig ausserhalb meiner Komfortzone. Ich habe Angst, dass ich Fehler mache und andere über mich lachen, wenn ich etwas Dummes sage. In Thailand passiert das leider ziemlich oft.
Nach der Sitzung sagt Hampi den Trainingskolleginnen und -kollegen, man könne jetzt mit mir langsam auch Deutsch reden. Sie sagen auch, ich müsse Deutsch antworten oder versuchen, eine Lösung zu finden. Es geht nun immer besser. Ich besuche auch die Migros-Klubschule, dort sind viele auf meinem Niveau. Ich getraue mich ein wenig mehr und beginne, mehr zu kommunizieren. Je besser ich mich ausdrücken kann, desto wohler fühle ich mich.
90 Prozent Schweizerin
Heute versuche ich, beide Lebensweisen zu kombinieren. Manchmal gelingt es, manchmal noch nicht. Die Umstellung generell war nicht einfach – der Alltag in Thailand ist komplett anders als in der Schweiz. Speziell der Umgang mit der Zeit ist in meinem Heimatland viel lockerer. Wenn man um 9 Uhr abmacht, kann es gut sein, dass die Leute um 12 Uhr kommen. Ich war relaxter dort, ich hatte das Gefühl, ich habe mehr Zeit, um etwas anderes zu machen, und es war nicht schlimm, wenn ich einmal nicht schon um 22 Uhr im Bett war. Hier in der Schweiz bin ich nun viel strukturierter. Es ist immer klar, was als nächstes kommt, der Tag ist durchgetaktet. Ich stehe um 7 Uhr auf, koche Frühstück und gehe dann rechtzeitig aufs Tram oder nehme mein E-Bike. Von 8.30 bis 11 Uhr ist täglich Training mit dem Nationalteam in Herrenschwanden bei Bern, dann gibts Mittagessen, und nach einem Powernap ist wieder Training. Wir haben zehn Einheiten pro Woche, sieben auf dem Feld und dreimal Krafttraining. Abends koche ich wieder etwas, sehr oft Fleisch mit Reis und mache dann noch etwas Kleines, zum Beispiel für mein Deutsch. Interclub spiele ich weiterhin in der Ostschweiz, mit dem NLA-Team BC Trogen-Speicher.
Ich würde sagen, ich bin jetzt zu 90 Prozent Schweizerin. Allerdings ist mein Kollegenkreis nicht so gross und mehrheitlich aus dem Badminton. Ich wohne in einer WG in Bümpliz, aber meine Mitbewohnerin sehe ich nicht oft. Sie ist am Wochenende nicht da, ich bin meistens unter der Woche weg und manchmal am Weekend auch. Mein Leben ist schon anders als das der meisten Gleichaltrigen, und es wäre cool, wenn ich jemanden hätte, um in die Ferien zu fahren.
Olympia statt Tiermedizin
Die Leute fragen mich manchmal, ob ich auch stolz bin, auf das, was ich erreicht habe. Da habe ich immer zwei Gedanken in meinem Kopf. Einerseits möchte ich nicht zu arrogant tönen, andererseits war ich oft auch zu bescheiden. Das ist auch nicht gut. Ich sollte mehr sagen: Ja, ich bin stolz, ich habe viel erreicht, ich habe nie aufgegeben. Alles ist möglich, obwohl es schwierig ist.
Aktuell konzentriere ich mich voll auf meine Sportkarriere und möchte mich unbedingt für die Olympischen Spiele in Paris qualifizieren. Was die fernere Zukunft angeht, ist es wohl nicht mehr realistisch für mich, Tierärztin zu werden. Ich müsste ja zuerst noch das Gymnasium nachholen und die Matura und anschliessend studieren. Aber ich würde sehr gerne etwas anderes mit Tieren machen und in der Schweiz gibt es ja in dieser Hinsicht sehr viele verschiedene Möglichkeiten. Ausserdem habe ich hier nebenher eine Ausbildung als Fitnesstrainerin absolviert.
Wir hatten immer Tiere zuhause, fast einen halben Zoo: Kaninchen, Katzen, Hunde, Vögel, Schildkröten, Fische – jetzt sind es noch drei Hunde und eine Katze. Mein Lieblingstier ist der Elefant, aber der geht ja schlecht als Haustier. Jetzt habe ich aber eine Familie mit einem Berner Sennenhund kennengelernt und besuche ihn jede Woche. Er heisst Bäri und ist so herzig.
Aufgezeichnet von Marco Keller, Kommunikationsverantwortlicher Swiss Badminton
Die Nummer 1 der Schweiz
Jenjira Stadelmann, von allen Jenny genannt, erlebte im vergangenen Juni ihren bisherigen Karrierehöhepunkt: Die thailändisch-schweizerische Doppelbürgerin realisierte an den European Games in Krakau die Bronzemedaille im Einzel – es war die erst dritte EM-Auszeichnung für eine Schweizer Badmintonspielerin nach Liselotte Blumer (1980) und Sabrina Jaquet (2017). Stadelmann ist Absolventin der Spitzensport-RS und hat bei der Elite schon fünf Schweizermeistertitel gewonnen, zwei im Einzel und drei im Doppel (mit Aline Müller). In der asiatisch dominierten Weltsportart wird man hierzulande nicht reich: Die Schweizer Nummer 1 und aktuelle Weltnummer 67 kommt aber über die Runden und wird stark von Swiss Badminton und der Schweizer Sporthilfe unterstützt, dazu kommt der Support durch die Armee.
Ungefiltert – Geschichten aus dem Schweizer Sport
Offen gesagt: Im Blog «Ungefiltert» erzählen Persönlichkeiten aus dem Schweizer Sport in eigenen Worten von aussergewöhnlichen Momenten und prägenden Erfahrungen. Von Siegen und Niederlagen, im Leben und im Sport. Wir freuen uns über Inputs für gute Geschichten, gerne auch die eigene: media@swissolympic.ch