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«Geh und hab Spass!»
Schon seit Beginn ihrer erfolgreichen Sportkarriere hat die 33-jährige Sarah Hoefflin immer mehr Wert auf Spass als auf Ergebnisse gelegt. Das hat sie jedoch nicht daran gehindert, bei den Olympischen Spielen 2018 in Pyeongchang eine Goldmedaille im Freestyle Skiing zu gewinnen. Hier spricht sie mit uns über die Party vor einem olympischen Finale, von einer Sahnetorte im Gesicht – und von Momenten, in denen auch ihr der Spass vergeht.
«16. Februar 2018. Olympische Winterspiele in Pyeongchang. Ich liege auf meinem Bett im olympischen Dorf. Ich habe mich für den Slopestyle-Finale qualifiziert, der morgen stattfindet. Mir tut alles weh, vor allem beide Fersen, ich kann kaum noch laufen. Zu meinen körperlichen Schmerzen kommt enormer Stress hinzu. Ich spüre diesen Druck, der sich bei den Olympischen Spielen unweigerlich einstellt: Ich muss Leistung bringen, es sind die Olympischen Spiele, es ist wichtig, es bleibt mir nichts anderes übrig, ich muss gut sein, das erwarten alle von mir – auch ich selbst.
In diesem Moment erhalte ich eine Nachricht. Der Snowboarder Scotty James hat in der Halfpipe eine Medaille gewonnen. Unser gemeinsamer Sponsor hat zur Feier des Tages eine kleine Party organisiert. Ich bin zu der Veranstaltung eingeladen, die in der Nähe unserer Apartments stattfindet. Was soll ich tun? In meinem Zimmer bleiben und mich weiter stressen oder zur Party gehen?
Dann sage ich mir: Los, geh und hab Spass – Spass zu haben ist auch ein Teil der olympischen Erfahrung! Ich war für eine Teilnahme an den Olympischen Spielen nicht unbedingt prädestiniert. Manche Athleten turnen von klein auf oder trainieren andere Sportarten mit Blick auf die Olympischen Spiele. Bei mir ist das überhaupt nicht so. Ich habe Neurowissenschaften studiert, gearbeitet und sehr spät mit dem Freestyle-Skifahren begonnen. Angesichts meiner Laufbahn war es also sehr unwahrscheinlich, dass ich einmal bei Olympia dabei sein würde. Also sollte ich die Gelegenheit nutzen.
An diese Party zu gehen, schien mir das Richtige zu sein. Ich stand also auf und ging hin. Bei der Party sagten die Leute zu mir: «Wow, du stehst im Finale morgen und heute Abend bist du hier? Super cool!» Natürlich bin ich nicht zu lange geblieben und habe mich nicht betrunken. Es ist aber gut möglich, dass mir dieser Moment geholfen hat, mich im Hinblick auf das Finale zu entspannen.
Am nächsten Tag war ich immer noch angespannt, aber ich fühlte mich trotzdem gut. Ich sehe noch vor mir, wie ich kurz vor dem Finale allein im Skilift war und dachte: Mach einfach das, was du kannst, es ist gut, du hast es geschafft, du bist hier, das Wetter ist schön, alle deine Freundinnen und Freunde und deine Familie schauen zu – du hast deine Ziele bereits erreicht.
Warum erzähle ich diese Episode? Manchmal denke ich, dass ich vielleicht auch wegen dieser «Philosophie des Spasses» die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Pyeongchang gewonnen habe. Bei den Spielen in Peking 2022 habe ich es am Abend vor meinen Wettkämpfen anders gemacht. Es muss also einen Zusammenhang geben.
Das ist mein Job
Ich habe manchmal in Interviews oder anderswo erklärt, dass mein Hauptziel beim Sport darin besteht, Spass zu haben – dass es ohne diesen Spass keine Motivation und keinen Erfolg gäbe. Heute, mit ein paar Jahren mehr Erfahrung, glaube ich immer noch, dass dieses Konzept richtig ist. Aber ich möchte das differenzieren: Es muss nicht unbedingt immer richtig sein.
Beim Freestyle-Skifahren steht Spass im Vordergrund. Wenn man keinen Spass an dieser Disziplin hat, wozu das Ganze? Aber ich weiss nicht, ob es möglich ist, in allen Sportarten Spass zu haben – ich denke da zum Beispiel an Ausdauersportarten. Manchmal muss man eher von Training und Durchhaltevermögen als von Spass sprechen. Auch beim Freestyle-Skiing.
Wenn es kalt ist, schneit und das Wetter eklig ist, kann das Skifahren zwar grundsätzlich meine Leidenschaft sein, aber ich empfinde diese Leidenschaft in diesem Moment überhaupt nicht. Ich denke in vor allem daran, nach Hause zu gehen, um irgendetwas anderes zu tun. Anderes Beispiel: Vor kurzem hatte ich eine Gehirnerschütterung. Als ich nach einer mehrwöchigen Pause ins Training zurückkehrte, war der Spass nicht sofort wieder da. Ich hatte ziemlich viel Angst, es fehlte mir an Selbstvertrauen.
In diesen schwierigeren Momenten schaffe ich es, die Dinge zu relativieren und mir zu sagen, dass es mein Job ist. Bevor ich im Schweizer Freeski-Team aufgenommen wurde, arbeitete ich in einem Pharmaunternehmen. Ich weiss also, was es heisst zu arbeiten. Mein damaliger Job gefiel mir und ich fand ihn sehr interessant. Aber es war eher die Routine – jeden Morgen aufzustehen –, die mir weniger gefiel. Mir wurde also schnell klar, dass ich ein riesiges Glück hatte, vom Skifahren leben zu können – dank meiner Sponsoren. Wenn es also mal nicht so gut läuft, habe ich keine Schwierigkeiten damit, mir zu sagen: Das ist in Ordnung, das gehört dazu. Ich brauche es, um meine Steuern und Versicherungen zu bezahlen. Man kann es schlechter treffen im Leben.
Die Erwartungen herunterschrauben
Nach meiner Goldmedaille bei den Olympischen Spielen 2018 habe ich mich gefragt: Und jetzt? Diese Medaille habe ich schon in meiner zweiten Saison errungen. Was sollte da noch kommen?
Ich beschloss also, meine Erwartungen nicht zu hoch anzusetzen. Eines Tages sprach ich in einer kurzen Präsentation, die im Rahmen der TED-Konferenzen veranstaltet wurde, über genau dieses Thema: Erwartungen herunterschrauben. Wenn man sich grosse, weit entfernte und schwierig zu erreichende Ziele setzt, ist die Möglichkeit, enttäuscht zu werden, ziemlich gross. Doch nicht alle Athletinnen und Athleten funktionieren so wie ich. Manche wollen immer und überall an der Spitze stehen. Vielleicht liege ich also falsch und es ist nicht der beste Weg, um zu gewinnen. Aber ich möchte mir, wenn ich meine Karriere beende, wirklich sagen können, dass ich obendrein auch viel Spass hatte. Ich möchte nicht, dass man sich an mich als eine Person erinnert, die sich nur auf den Wettbewerb konzentriert und mit keinem anderen gesprochen hat. Das entspricht nicht meinen Werten.
Kürzlich hörte ich in einer anderen superinteressanten TED-Konferenz eine Person, die die gleiche Idee verfolgte – nur mit anderen Worten. Sie sagte: Man muss Spass daran haben, den Weg zu einem Ziel mit Leben zu erfüllen, sich an dem zu erfreuen, was man täglich tut – und nicht nur an den Wunsch zu denken, zu gewinnen oder Erste bzw. Erster zu werden. Ich denke, dass das wirklich stimmt, und ich versuche, das auch umzusetzen. Beim Freestyle-Skiing sage ich mir zum Beispiel: Ich möchte diese oder jene Figur lernen, damit ich sie im Wettkampf erfolgreich ausführen kann. Das braucht Zeit und ist Teil des Weges. Und wenn ich das erst einmal geschafft habe, dann kommen die Medaillen – vielleicht. Das Ende der Geschichte ist zwar wichtig, aber es ist nicht alles – es gibt auch alles das, was davor kommt.
Eine lange Geschichte
Im Swiss Freeski-Team ist die Stimmung sehr gut, wir lachen viel. Wir haben zum Beispiel eine Tradition: Jedes Geburtstagskind bekommt eine Sahnetorte ins Gesicht. Hierzu fällt mir gerade noch folgende Szene ein.
Es ist der 8. Januar 2024 schon gegen Abend. Ich feiere meinen 33. Geburtstag. Da ich genau weiss, dass ich wahrscheinlich eine Sahnetorte ins Gesicht bekomme, habe ich mir nicht die Haare gewaschen. Ich sitze mit Mathilde Gremaud vor dem Computer und wir studieren ein Video. Während wir uns auf den Bildschirm konzentrieren, entfernt sich unser Trainer Greg unauffällig. Einige Augenblicke später steht er hinter mir, die Torte in der Hand, nur wenige Zentimeter von meinem Kopf entfernt. Ich kriege nichts mit. Er hätte mich jeden Moment erwischen können, aber er wartet und wartet – mehrere Sekunden – und ruft dann plötzlich: «Sarah!». Ich drehe mich um und sehe aus dem Augenwinkel die Torte. Greg wirft sie, aber ich kann ausweichen. Die Torte landet direkt auf meinem Freund: Er hat die ganze Torte abgekriegt und ich gar nichts. Das nennt man Karma: Er hatte die Torte besorgt.
Diese spassige Seite des Swiss Freeski-Teams gab es schon lange vor mir. Als ich anfing, war ich die Neue, die alles noch lernen musste. Aber nach dem, was ich gehört habe, nimmt die Ernsthaftigkeit zu. Früher gingen offenbar viele Athleten regelmässig feiern, wenn sie in Saas-Fee waren, unserem Trainingsort für die Hälfte des Sommers. Am nächsten Tag gingen sie mit sehr wenig Schlaf oder einem Kater zum Training. Das ist tatsächlich überhaupt nicht mehr so. Ich denke, das liegt in erster Linie daran, dass Slopestyle und Big Air in das olympische Programm aufgenommen wurden. Und ich denke auch, dass es viel mehr Wettkämpfe gibt als früher. Nach Siegen haben wir nicht unbedingt Zeit zum Feiern. Du gewinnst, und manchmal musst du gleich danach wieder weiter. Jedes Jahr habe ich das Gefühl, zehnmal so viel zu reisen wie im Jahr zuvor. Jedes Mal sage ich mir: Ich weiss nicht, wie man noch mehr reisen kann. Doch irgendwie stehen noch mehr Reisen auf dem Programm.
Kurz gesagt: Es ist nicht so, dass wir weniger lachen, aber wir feiern weniger. Ausserdem steigt das Niveau von Jahr zu Jahr, es wird härter, die Figuren werden schwieriger. Ich habe den Eindruck, dass man bestimmte Figuren nur noch dann zeigen kann, wenn man bei 100 % ist. Ich glaube, man kann nur noch auf dem Podium landen, wenn man diesen Sport ernsthaft betreibt.
Wie ich schon sagte: Die Stimmung in unserer Gruppe ist gut. Abgesehen von der Sahnetorte haben wir noch eine weitere Tradition. Jedes Mal, wenn wir nach Kalifornien, nach Mammoth, zu Wettkämpfen fahren, versuchen wir, uns drei oder vier Tage freizuhalten, um danach surfen zu gehen. Das finde ich super. Darauf freue ich mich sehr. Ich bin beim Surfen eine Null, aber ich liebe es trotzdem.
Aber mir fällt gerade ein, dass ich noch nicht alles über die Torten erzählt habe. Man könnte sich fragen: Hat Sarah schon jemals eine Sahnetorte ins Gesicht bekommen? Ich kann Sie beruhigen. Ja. Bei den ersten beiden Malen habe ich es nicht kommen sehen und konnte nicht ausweichen.
Und ich habe sehr gelacht. Es hat Spass gemacht.»
Aufgezeichnet von Fabio Gramegna, Medienteam von Swiss Olympic
Ungefiltert – Geschichten aus dem Schweizer Sport
Offen gesagt: Im Blog «Ungefiltert» erzählen Persönlichkeiten aus dem Schweizer Sport in eigenen Worten von aussergewöhnlichen Momenten und prägenden Erfahrungen. Von Siegen und Niederlagen, im Leben und im Sport. Wir freuen uns über Inputs für gute Geschichten, gerne auch die eigene: media@swissolympic.ch